IV - Jorian (1/4)

0 0 0
                                    

Für einen Moment hatte er die Sonne gesehen, die Weite des blauen Himmels, einen warmen Wind, der durch sein Gefieder blies. Dann hatte ihn etwas hinabgerissen, der blaue Himmel war verschwunden und einem Tosen aus Sturm und der aufgepeitschten See gewichen. Grelle Blitze zuckten herab und erleuchteten für Sekundenbruchteile das dunkle Meer unter ihm. Donner grollte über den von dunklen Wolken verhangenen Himmel.

Verzweifelt flatternd versuchte er sich mit seinen kleinen Flügeln gegen das Chaos zu behaupten. Riesige Wellen schwarzen Wassers türmten sich auf, griffen nach ihm und er wusste, dass sie ihn in die Tiefen des Meeres reißen würden, wenn sie ihn erwischten. Gleichzeitig trieb ihm der Sturm dicken Regen in die kleinen Augen und drückte ihn hinab, wie sehr er auch versuchte, dagegen anzukämpfen. Er stieß einen verängstigten Schrei aus, der hoffnungslos im Brausen der Wellen unterging. Der Wind riss ihm die Federn aus. Er wusste, dass er nicht mehr lange durchhalten würde.

Wie um alles in der Welt war er hierhergekommen? Gerade als ihn die Hoffnung darauf verließ, Sturm und Meer zu entkommen, sah er ihn.

Mitten im Meer ragten wie Klauen zerklüftete Felsen auf. Sie sahen aus, als hätten riesige Pranken einen ganzen Berg zertrümmert. Auf ihrem Rücken reckte sich ein Turm in den finsteren Himmel. Um den Turm herum sah er eine Reihe kleinerer Gebäude mit schmalen Zinnen und hohen und spitzen Dächern.

Die Gebäude und der Turm waren so schwarz, dass sie sich selbst vor den dunklen Wolken deutlich abhoben. Gigantische Wellen schmetterten gegen den Stein und zerstoben in schwarzen Schaum. Noch nie zuvor, so schien es ihm, hatte er einen so großen Turm gesehen.

Ein Gefühl wie Eis griff nach seinem kleinen Körper. Von der Insel, deren ganze Größe er im Tosen von Wind und Wellen kaum ermessen konnte, ging etwas Bedrohliches aus, etwas Gefährliches, etwas Böses. Unter normalen Umständen hätte er niemals dort landen wollen, niemals wäre er nur in ihre Nähe geflogen. Doch jetzt, wo er die Wahl hatte, sich vom Meer verschlingen oder vom Sturm zerreißen zu lassen, wusste er, dass dies vielleicht seine einzige Rettung war. Ein letztes Mal mobilisierte er seine Kräfte, schlug kräftig mit den Flügeln und steuerte auf den Turm zu.

Der Wind warf ihn fast gegen die Felsen und hätte ihn beinahe an der glatten Turmwand zerschmettert, als er ihn erreichte und nach einer Möglichkeit suchte, wo er landen konnte. Die Gischt der aufbrausenden Wellen trieb ihn hinauf, doch so sehr er sich auch bemühte durch Regen und Wind einen Unterschlupf zu finden, sah er doch nichts außer blankem Stein. Fast glaubte er schon, er würde es nicht schaffen, da entdeckte er nahe der Turmspitze einen winzigen Spalt, gerade groß genug, dass er sich hineinzwängen könnte. Aber würde er dort auch landen können?

Beim ersten Versuch riss der Wind ihn von der Mauer fort, beim zweiten schmetterte er ihn fast dagegen. Beim dritten Anflug schaffte er es. Seine kleinen Krallen fanden Halt in der Ritze und unter Aufbietung seiner letzten Kräfte quetschte er sich hinein.

Es war, als wäre er durch eine unsichtbare Mauer geflogen. Kaum kauerte er in dem schmalen Spalt, wurde das Tosen draußen leiser und wirkte fern, auch wenn er den Regen noch spüren und die Blitze noch sehen, das Grollen des Donners noch hören konnte. Er zitterte am ganzen Körper. Dem Sturm war er zwar entkommen, aber er verspürte kaum Erleichterung.

Das Gefühl, dass etwas Böses vom Turm ausging, war stärker geworden und es jagte ihm ein Schaudern durch die zerzausten Federn. Trotzdem schob er sich vorsichtig tiefer in den Spalt, der am anderen Ende ebenfalls eine Öffnung zu haben schien.

Erst als der Regen ihn nicht mehr erreichen konnte, gönnte er sich einen Moment Ruhe und schloss die Augen.

Im gleichen Moment erwachte Jorian.

Der Untergang Ijarias I - Die Schatten erheben sichWhere stories live. Discover now