V - Jorian (2/4)

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Gegen Mittag war es soweit. Ein Mann auf einem großen braunen Pferd hob die Stimme und rief über den Platz: »Palast des Morgens, Residenz der Königin! Wir brechen auf.«

Bewegung kam in die Gruppe. Hie und da rief jemand einen Namen, Leute saßen auf ihren Pferden auf, die Kutschböcke wurden besetzt und nach kurzer Zeit setzte sich die Gruppe in Bewegung Richtung Osttor.

Obwohl sein Auftrag ihn immer noch belastete, war Jorian aufgeregt. Er lief in der Nähe des Karrens und richtete seinen Blick interessiert nach vorn.

Die Reise hatte begonnen.

Es dauerte nur wenige Tage, bis Jorian der festen Überzeugung war, dass ihre Fahrt unter keinem guten Stern stand. Schon kurz nach ihrem Aufbruch hatte es angefangen zu nieseln. Anfangs hatte ihn das kaum gestört, aber nach einer Weile drang die Feuchtigkeit in seine Kleidung und da es einfach nicht aufhören wollte, war ihm schon bald nass und klamm. Ein kalter Wind pfiff von Norden herunter und es dauerte nicht lang, da hatte das Wetter die zu Beginn noch gute Stimmung so weit gedrückt, dass kaum mehr ein Wort gesprochen wurde. Stumm stapften sie über die vom Wasser aufgeweichte Straße. Einzig das Geschimpfe eines der Reiter war fast ununterbrochen zu hören. Jorian wünschte sich, er wäre endlich still. Offensichtlich hatte der Mann sich ein neues Pferd in Ijaria gekauft. Das Pferd schien keinen Gefallen an seinem neuen Reiter zu finden und widersetzte sich dauernd seinen Kommandos und Befehlen. Dies führte dazu, dass der Reiter sich bemühte, seinem neuen Tier endlich seinen Willen aufzwingen zu können. Selbst wenn es einmal das tat, was er wollte, fand er keine Ruhe und gab dem Pferd ein neues Kommando, anscheinend um zu prüfen, ob es auch ein weiteres Mal gehorchen würde, was es aber nicht tat. Seit zwei Tagen drosch er regelrecht mit seiner Reitgerte auf das Tier ein, was schon deutliche Spuren auf dem Pferd hinterlassen hatte.

Jorian verachtete den Mann dafür, wie er sein Pferd misshandelte. Vermutlich, so dachte Jorian, hätte er es einmal mit einer weniger groben Stimme, mit weniger sinnlosen Befehlen und mit weniger Stress versuchen sollen, als wie ein Irrer auf sein Pferd einzudreschen. Misserfolg reihte sich an Misserfolg und Jorian zweifelte daran, dass der Reiter noch zusammen mit seinem Pferd im Palast ankommen würde. Neben einzelnen Reitern gab es noch eine Familie, die offensichtlich dem Adel angehörte. Sie war mit einer Kutsche wie auch mit Pferden dabei. Zu Anfang war sie noch geritten, aber nachdem es angefangen hatte zu regnen, war sie schon bald in die Kutsche gestiegen. Jorian hatte bei einem Gespräch zwischen zwei Mitreisenden gehört, dass es sich bei der Familie um die Coldibs handeln sollte, eine geldgierige und gleichzeitig verschwendungssüchtige Adelsfamilie. Ob die Coldibs wirklich geldgierig und verschwendungssüchtig waren, wusste Jorian nicht. Geldgier und Verschwendungssucht waren zwei Eigenschaften, die immer genannt wurden, wenn jemand eine Adelsfamilie beschrieb, zusammen mit Begriffen wie ›machtgierig‹ und ›arrogant‹.

Die Coldibfamilie bestand aus einem Mann, einer Frau und einem Mädchen, das etwas jünger als Jorian war. Zu Beginn ihrer Reise hatte das Mädchen Jorian einen interessierten Blick zugeworfen und auch jetzt sah sie manchmal aus dem kleinen Fenster der Kutsche. Er konnte nicht mit Gewissheit sagen, dass sie dabei ihn ansah, aber der Eindruck blieb, auch wenn er versuchte, ihn als Unsinn abzutun.

Ebenfalls mit ihnen reiste eine Gruppe Musiker. Allesamt schienen es einfache Leute zu sein, schlicht aber gut gekleidet und mit einem eigenen Karren unterwegs, auf dem sie ihre Instrumente lagerten. Am ersten Abend hatten sie sie ausgepackt und zur Freude aller ein wenig musiziert, aber schon am zweiten Abend hatten sie ihre Instrumente wegen der Feuchtigkeit nicht mehr herausholen wollen.

Jorian hatte ein gutes Gefühl gegenüber den Musikern, abgesehen von einem. Er hielt sich stets etwas abseits von den anderen und vermittelte den Eindruck, nicht wirklich dazuzugehören. Auch hatte er am ersten Abend nicht mitgespielt. Er trug einen breitkrempigen schwarzen Hut und einen schwarzen Mantel mit roten Versatzstücken. Aus irgendeinem Grund war er Jorian unheimlich.

Am fünften Tag ihrer Reise verschlechterte das Wetter sich am Nachmittag so sehr, dass sie fast nicht mehr weiterkonnten. Die Straße verlief durch kahles Hügelland, welches keinen Schutz vor Wind und Wetter bot. Am Mittag war der Nieselregen in richtigen Regen übergegangen und mittlerweile klatschten die Tropfen dick auf ihre Rücken, vom kalten Nordwind aufgepeitscht. Der Himmel hatte sich so sehr verfinstert, dass man den Eindruck haben konnte, die Nacht wäre verfrüht hereingebrochen. Einige der Reisenden murrten laut und wollten ein notdürftiges Lager gegen das Wetter errichten, aber Luk, der Mann, der die Gruppe anführte und leitete, war dagegen.

»Nein!«, rief er laut über den Regen hinweg, »wir gehen weiter!« Er deutete die matschige Straße hinunter. »Nicht mehr weit kommt ein kleiner Wald, in dem wir Schutz finden können!«

An der Reaktion konnte Jorian erkennen, dass kaum jemand dies für eine gute Idee hielt, aber sie folgten Luks Anweisungen.

Jorian fror. Seine Kleidung war seit Tagen nicht mehr trocken gewesen. Er presste die Tasche mit dem Buch an sich und versuchte sie, so gut es ging, vor dem Wetter zu schützen. Zwar hielt das Leder der Tasche das meiste Wasser ab, aber es lief in Ritzen und sickerte langsam durch Nähte. Jorian wünschte sich, dass es endlich aufhören würde.

Zunächst hatte er mit seinem Wunsch kein Glück. Als ob das Wetter ahnte, dass sie schon bald in den Wald entkommen würden, wandte es sich noch einmal besonders intensiv gegen sie. Die Straße war jetzt von so schlechter Qualität und es war so dunkel, dass Jorian Mühe hatte, nicht zu stolpern. Am Fluchen um sich herum konnte er hören, dass es auch den anderen kaum besser ging.

Endlich kam der Wald in Sicht. Die Bäume bewegten sich im Wind hin und her und Jorian bezweifelte ernsthaft, dass es dort besser war, als wenn sie so ein Lager aufgeschlagen hätten. Doch nachdem sie einige Meter in den Wald hineingegangen waren, traf sie der Wind nicht mehr ganz so stark und auch der Regen schien weniger zu werden.

Dennoch kehrte keine Ruhe ein. Sie waren gerade vielleicht hundert Schritte in den Wald gegangen, als jemand weiter hinten einen lauten Ruf ausstieß.

»Halt!«

Alle drehten sich um. Es war die Kutsche der Coldibs, die mit einem Rad in ein Straßenloch gefahren und dort offensichtlich stecken geblieben war. Sie stand schief auf der Straße und die Coldibs waren gerade dabei, auszusteigen.

»Wir brauchen hier Hilfe!«, rief der Kutscher.

»Wie wäre es, wir lassen die Kutsche stehen und der werte Siero und die werten Laedas steigen auf ihre Pferde um?«, gab eine Frau gereizt als Antwort. Ein paar Reisende lachten gehässig.

Siero Coldib warf der Frau einen wütenden Blick zu, sagte aber nichts.

Luk kam auf seinem Pferd von der Spitze zurückgeritten.

»Wir müssen schieben!«, rief er.

Ein allseitiges Murren erhob sich, aber hier und da setzte sich jemand in Bewegung und nahm hinter der Kutsche Platz, um zu helfen. Luk richtete sich in seinem Sattel auf und gab dem Kutscher ein Zeichen.

»Schiebt!«, rief er laut. Am hinteren Teil der Kutsche hörte man schweres Atmen und Keuchen, doch auch wenn sie sich ein wenig bewegte, so kam sie dennoch nicht aus dem Loch heraus.

Luk machte einen zweiten Anlauf.

»Schiebt!«, rief er erneut. Jorian hatte den Eindruck, dass die Kutsche sich jetzt nach vorn bewegte.

»Schiebt!«, feuerte Luk die Männer und Frauen auf der Rückseite an. Dann gab es ein lautes Krachen und mehrere Dinge passierten in kürzester Folge aufeinander.

Der Untergang Ijarias I - Die Schatten erheben sichजहाँ कहानियाँ रहती हैं। अभी खोजें