VI - Elno (1/6)

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Der Stock fiel klappernd zu Boden. Elno stolperte nach rechts und gab einen unterdrückten Schmerzlaut von sich. Sein Handgelenk war schmerzhaft zur Seite geklappt. Er umklammerte es mit der linken Hand und warf Roderic einen verunsicherten Blick zu. Auch Roderic schaute ihn an, als wüsste er nicht, was er tun sollte.

»Alles in Ordnung?«, fragte er.

Elno nickte, bückte sich und hob seinen Stock wieder auf. Ein stechender Schmerz zog sich durch sein Handgelenk herauf bis in den Oberarm, als er ihn mit seiner Hand umfasste. Er lockerte den Griff etwas und der Schmerz ließ nach. So würde er nicht mehr lange weiter üben können. Er warf einen Blick zum Himmel, wo die Sonne hoch über dem Platz stand. Es war erst Mittag und ein Ende der Kampfübungen würde noch eine Weile auf sich warten lassen.

Schon seit dem Frühstück war ihm abwechselnd heiß und kalt geworden und nun machte sich die Erschöpfung in Elnos Armen und Beinen bemerkbar.

»Bereit?«, fragte Roderic. Wieder nickte Elno.

»Gut. Diesmal greifst du an.«

Dass er angreifen sollte, bedeutete allerdings nur, dass er seinen Schlag von außen nach innen führen würde und Roderic von innen nach außen. Denn, so hatte es ihm Tenolia erklärt, zwischen einer guten Verteidigung und einem Angriff gab es keinen Unterschied.

»Verteidigung ist sinnlos!«, hatte ihm Kampfmeisterin Tenolia erklärt, als er begonnen hatte, mit Roderic Partnerübungen durchzuführen. »Die beste Verteidigung ist ein Gegenangriff! Unser Ziel ist es, eine Verteidigung überflüssig zu machen, weil wir den Gegner ausgeschaltet haben.«

Zu Demonstrationszwecken hatte sie einen Schüler aufgefordert, sie anzugreifen. Der Schüler hatte sein Bestes gegeben, aber Tenolia hatte seine Schläge ohne Mühe mit einem Gegenschlag durchbrochen und ihn ihrerseits auf den Kopf getroffen. Das Ziel war immer der Kopf und wie Tenolia erläuterte, auch für alle Zeit Elnos bevorzugtes Ziel.

Im Moment jedoch war Elno weit davon entfernt, Roderic am Kopf zu treffen. Seinen Schlägen fehlte es an Kraft und er fühlte sich elend und müde. Er hob seinen Stock hoch, sodass die Spitze nach außen zeigte und sich seine Hand auf Höhe seines Gesichtes befand. Dann führte er träge einen Schlag in Roderics Richtung aus. Der Schlag war schlecht ausgeführt und Elno merkte es sofort. Er hatte sich zu langsam nach vorne bewegt und gleichzeitig zu weit nach hinten ausgeholt. Roderic, der seinerseits schnell und geschickt nach vorn gestoßen war, hätte Elno kräftig auf den Kopf getroffen, wenn er nicht im letzten Moment seinen Schlag abgebremst hätte. Dafür machte er einen unbeholfenen Schritt nach vorn und rannte in Elno hinein. Sein Arm traf Elno auf der Nase. Ein stechender Schmerz, der sich bis in die Stirn herauf zog, trieb ihm die Tränen in die Augen. Er taumelte zwei Schritte nach hinten, versuchte verzweifelt das Gleichgewicht zu halten und fiel dann nach hinten zu Boden. Wieder gab er einen Schmerzlaut von sich. Instinktiv hatte er versucht, seinen Sturz mit dem rechten Arm aufzufangen und hatte sich erneut auf sein schmerzendes Handgelenk gestützt. Der Schmerz war so stark, dass der Arm seinen Dienst verweigerte und Elno ungebremst auf die Seite fiel.

Für einen Moment tat ihm alles weh und er schloss die Augen. Er merkte, wie eine Hand ihn an der Schulter fasste und versuchte ihn aufzurichten. Er gab sich Mühe, der Bewegung zu folgen. Als er die Augen öffnete, trübten Tränen seinen Blick. Verschwommen sah er das besorgt dreinblickende Gesicht Roderics.

»Entschuldigung! Ist alles in Ordnung? Du blutest!«

Dann hörte Elno eine zweite Stimme.

»Weg da!«

Es war Tenolia, die gesprochen hatte. Roderics Gesicht verschwand aus Elnos Blickfeld und wich dem der Meisterin des Kampfes. Eine stärkere Hand als die Roderics packte ihn und zog ihn auf die Beine. Elno versuchte stehenzubleiben und nach ein paar wackeligen Versuchen gelang es ihm. Tenolia musterte ihn kritisch.

»Drück deine Nasenflügel zusammen!«, forderte sie ihn unwirsch auf und Elno kam ihrer Aufforderung mit seiner linken Hand nach.

Langsam wurde sein Blick wieder klarer und er sah, dass einige der anderen Jungreiter ihre Übungen unterbrochen hatten und ihn beobachteten.

»Ich sage es nur ungern«, begann Tenolia in ungehaltenem Tonfall, »aber du kannst nicht weiter trainieren. Geh zum Haus der Heiler und sprich mit Meister Hoergel. Ich glaube, du hast mehr als nur ein verknackstes Handgelenk und etwas Nasenbluten. Du wirst krank.«

Damit schien für sie alles Nötige gesagt. Sie ließ Elno stehen und drehte sich zu den Umstehenden um.

»Weiter trainieren!«, rief sie laut und die anderen nahmen eilends ihre Übungen wieder auf.

Elno stand auf dem Platz und bewegte sich nicht, bis Roderic ihn an die Schulter tippte.

»Weißt du, wo du Meister Hoergel findest?«

»Nein«, sagte Elno mit zugehaltener Nase.

Roderic deutete auf eine der Straßen.

»Da lang«, sagte er, »und dann ist es das große Haus auf der linken Seite.«

Mit wackeligen Beinen machte sich Elno auf den Weg. Ihm war kalt und es fühlte sich an, als würde die Kälte nicht von außen, sondern von innen kommen. Seine Augen taten ihm weh. »Du wirst krank«, hatte Tenolia gesagt. Die Worte holten schlechte Erinnerungen in ihm hervor. In einem Winter, als er versucht hatte, trotz Kälte und Schnee vor der Hütte zu übernachten, war er sehr krank geworden. Er hatte tagelang zusammengerollt auf dem Boden gelegen und gedacht, er würde sterben. Nela hatte ihn mit Wasser versorgt und ihn alleine unter ihrer gemeinsamen Decke schlafen lassen. Auch Ana hatte hin und wieder nach ihm geschaut und seine Stirn befühlt. Nach einigen schlimmen Tagen und Nächten hatte er sich wieder erholt, auch wenn es lange gedauert hatte, bis er sich wieder wirklich besser gefühlt hatte.

Im Haus der Heiler angekommen, dauerte es eine Weile, bis Meister Hoergel ihn aufsuchte. Elno wartete auf einer schlichten Pritsche sitzend in einem Raum mit zahlreichen Fläschchen, Töpfen und Schalen, in denen sich allerlei Salben und Flüssigkeiten befanden. Ein seltsamer Geruch lag in der Luft.

Als Meister Hoergel kam, machte er ein besorgtes Gesicht, kaum, dass er Elno angesehen hatte. Hoergel war ein kleiner Mann in einem weißen Gewand und hatte funkelnde, graue Augen.

Zuerst versorgte er Elnos Handgelenk, indem er eine weiße Paste darauf strich und ihm dann einen Verband anlegte. Dann säuberte er Elnos Nase von getrocknetem Blut und bewegte die Nase ein paar Mal hin und her. Danach begann er, Elno eingehend zu untersuchen. Er befühlte ihn an den Händen, an der Stirn, warf einen Blick in seinen Mund und betrachtete eingehend Elnos Augen.

»Du hast das Herbstfieber!«, verkündete Meister Hoergel nach dem Ende der Untersuchung. »Dass sie dich in diesem Zustand noch üben lassen! Kein Wunder, dass du dich verletzt hast.«

Leise vor sich hin schimpfend begann er, etwas in den Regalen des Zimmers zu suchen.

»Ich werde wohl mal mit ihr sprechen müssen, ja«, sagte er, doch mehr zu sich selbst als zu Elno, »ich kann es zwar verstehen, aber richtig finden, nein!«

Elno war, als ob sich sein Geist langsam in sein Inneres zurückziehen würde und Müdigkeit überkam ihn. Sie kletterte seinen Rücken hinauf über seinen Nacken und schließlich legte sie sich wie ein trüber Schleier um seinen Kopf. Er wollte sich hinlegen und wäre fast von der Pritsche gefallen, wenn Hoergel ihn nicht aufgefangen hätte.

»Na, dich hat es ja ganz schön erwischt!«, hörte er Hoergel sagen. Dann fiel Elno in einen dumpfen und traumlosen Schlaf.

Der Untergang Ijarias I - Die Schatten erheben sichWhere stories live. Discover now