VI - Vinja (1/8)

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Vom Prinzip her, das verstand Vinja mittlerweile, war das Wichtigste der Angriff. Egal, ob sie ohne Waffen, mit einem Besenstiel oder einem Messer kämpfte. Immer kam es darauf an, einen Angriff auszuführen, der den Gegner in eine Verteidigung zwang. Wurde man selbst angegriffen, auch das war ihr klar, war es besser, den Angriff mit einem Gegenangriff zu kontern, als sich zu verteidigen. Niemand, so hatte es Helgrin ihr immer und immer wieder erläutert, gewann durch gute Verteidigung. Man gewann durch einen Angriff, einen Angriff, der den Gegner außer Gefecht setzte oder im Zweifelsfall tötete.

Einmal hatte Vinja gefragt, ob es nicht auch andere Arten gab, zu kämpfen.

»Sicher gibt es sie«, hatte Helgrin geantwortet. »Geh zur Stadtwache, zur königlichen Armee, in eine Kneipe oder auf den Übungsplatz vor den Kasernen, überall wirst du Leute finden, die anders kämpfen. Manche werden dir auch sagen können, wieso sie es so machen, viele nicht einmal das. Aber egal wie sie es anstellen, ich bringe dir nicht bei, wie sie kämpfen, ich bringe dir bei, wie wir kämpfen.« Bei dem ›wir‹ hatte sie auf eine kleine, dunkelrote Stickerei gedeutet, die die Schultern ihres sonst schlichten Hemdes schmückte. Ein Schwert, das von oben kommend ein Herz durchbohrte und welches Helgrin, soviel hatte Vinja gelernt, als Mitglied der Königsgarde auswies. Ein Titel, der ihr Respekt und Achtung verschaffte und den zu erlangen, auch soviel war Vinja klar, nur sehr wenigen offen stand.

Vinja versuchte, sich wieder auf ihre Übung zu konzentrieren. Ein Angriff war einer Verteidigung immer vorzuziehen und dies würde auch für den Kampf mit dem Schwert gelten, welches sie nun in den Händen hielt. Es war kurz, vielleicht in etwa so lang wie ihr Arm und gleichzeitig schwer. Es fühlte sich fremd an in Vinjas Händen.

»Es gibt viele verschiedene Schwertarten«, erläuterte Helgrin. Sie stand Vinja gegenüber wie immer auf der kleinen Wiese am südlichen Rand des Parks. »Und fast jede bringt ihren eigenen Kampfstil mit sich.«

Auch Helgrin hatte ein Schwert in der Hand.

»Dieses hier ist eine Stichwaffe.«

Ein Schauer überlief Vinja. Der Kampf mit Fäusten und Händen hatte ihr wenig Schwierigkeiten bereitet. Sicher, Helgrin hatte ihr Techniken gezeigt, wie man jemanden besonders effektiv schlug, aber alles in allem hatte es viel von einer Rauferei unter Kindern, oder schlimmstenfalls unter Erwachsenen. Vinja hatte solche Schlägereien bei Festen in Halwar gesehen und eine auch hier in Ijaria, wo Betrunkene aufeinander losgegangen waren. In Halwar endeten solche Schlägereien meistens damit, dass die Kontrahenten sich mit einem gemeinsamen Bier wieder versöhnten und selten wurde jemand ernsthaft verletzt.

Das Schwert, das Vinja nun in der Hand hielt, änderte die Sache. Schon als Helgrin ihr gezeigt hatte, wie man ein Messer benutzte, hatte sie ein ungutes Gefühl beschlichen.

Helgrin sprach vom Kampf wie von einer Allerweltsangelegenheit, aber für Vinja war es mehr als das. Mit einer Waffe, das verstand Vinja, ging es nicht darum, eine Meinungsverschiedenheit zu regeln, oder jemandem eins auf die Nase zu geben, weil man sich von ihm beleidigt fühlte. Eine Waffe diente einem anderen Zweck. Sie war gemacht, um jemanden zu verletzen, oder schlimmer noch, zu töten.

In Halwar hatte kaum jemand offen eine Waffe getragen und auch hier in Ijaria trugen nur sehr wenige neben der Stadtwache Waffen. Bisher hatte Vinja keinen Kampf zwischen bewaffneten Menschen gesehen, von Schaukämpfen beim Jahrmarkt abgesehen. Aber das Schwert, das sie nun in der Hand hielt, war spitz und scharf. Die Klinge war breit und an ihrem Ende liefen die Seiten zu einer Spitze zusammen. Helgrin hätte nicht erwähnen müssen, dass beim Üben ab jetzt besondere Vorsicht vonnöten war. Sie wog das Schwert in ihrer Hand und gleichzeitig geisterte die Frage in ihrem Kopf herum, ob sie das wirklich lernen wollte, ob sie lernen wollte, wie man tötete.

Der Untergang Ijarias I - Die Schatten erheben sichWhere stories live. Discover now