I - Vinja (3/3)

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Kaum setzten sie den Weg in ihrem mächtigen Schatten fort, als Vinja am dunstigen Horizont die Umrisse einer Stadt erkennen konnte.

»Ijaria!«, rief jemand. Es war, als ob jemand einen Zauberbann gebrochen hätte. Mit dem Schweigen, das noch im Anblick der Statue geherrscht hatte, war es vorbei.

Je näher sie kamen, desto mehr verstand Vinja, dass ihr Vater nicht übertrieben hatte. Vielmehr gewann sie den Eindruck, er hätte untertrieben. Die Stadt war größer, als sie es in ihrer Vorstellung je gewesen war. Mit jedem Schritt, den sie tat, wuchs sie in Höhe und Breite. Vinja sah eine gigantische Stadtmauer und dahinter ragten Dächer, Türme und Kuppeln in die Höhe. In der Mitte der Stadt streckte sich ein Berg zum Himmel, auf dessen Spitze eine mächtige Festung erbaut war. Jetzt wurde auch Vinja von der Euphorie der anderen ergriffen. Mit einem Mal konnte sie es kaum erwarten, anzukommen, endlich da zu sein und diese ewig lange Straße hinter sich zu lassen. Doch es dauerte länger, als es aussah, und als sie die Ausläufer Ijarias erreichten, stand die Sonne tief am Himmel.

Schon außerhalb der Stadtmauern herrschte reges Treiben. Zuerst dachte Vinja, sie würden auf einen Markt zulaufen, denn sie sah Stände und Verkaufszelte. Doch als sie näher kamen, wurde ihr klar, dass sie sich irrte. Hier wurde nichts verkauft.

Die Zelte und Stände waren nicht mehr als notdürftig zusammengezimmerte Bretterbuden oder aufgespannte Decken, die an den Enden an Holzstangen geknotet waren. Ein paar Kinder in schmutziger Kleidung rannten auf sie zu und liefen ein Stück des Weges neben ihnen her. Auch ältere Personen traten an die Straße und manche fragten nach Geld oder Essen. Wie auch Vinja verfiel auch der Rest der Gruppe wieder in Schweigen, außer wenn jemand mit groben Worten eines der Kinder fortjagte.

»Das ist ja widerlich!«, sagte Rigund plötzlich. Mit angeekeltem Blick musterte sie eine der Hütten, aus der ein beißender Geruch kam.

»Ja, nicht wahr?«, antwortete Belfonso leise. »Aber der königliche Rat lässt es regelmäßig abreißen, wenn es zu groß wird.«

Rigund schnaubte und machte ein säuerliches Gesicht, als könne sie diesen Tag kaum erwarten. Wo die Leute wohl hingehen, wenn ihre Zelte abgerissen werden, fragte sich Vinja, während sie ihren Blick über die Zeltstädte wandern ließ. Hier mussten Tausende von Menschen leben.

Kurz vor dem Tor trat Masia neben Vinja. Sie sah erschöpft, aber glücklich aus.

Vinja verlangsamte ihren Schritt, um sich mit ihr unterhalten zu können. Masia lächelte sie an.

»Nochmal danke für deine Hilfe. Ich glaube, ohne dich hätte ich es nicht geschafft.«

»Ach Unsinn«, antwortete Vinja, aber sie wusste, dass Masia vermutlich recht hatte.

Masia nahm Vinjas rechte Hand zwischen die ihren und drückte sie. Ihre Haut war heiß und trocken.

»Sicher sehen wir uns bald wieder«, sagte die alte Frau. »Ich komme in eurer Wäscherei vorbei, wenn ich kann. Es wird nicht schwierig sein, sie zu finden. Ich habe gehört, es soll die einzige in ganz Ijaria sein.«

Es dauerte einen Moment, bis Vinja begriff, dass Masia sich verabschieden wollte. Sie blickte sich um.

»Du kommst nicht mit herein?«

Die Alte schüttelte den Kopf. »Heute nicht mehr. Ich kann mir keinen Gasthof leisten und ich möchte nicht nachts durch die Straßen irren.«

»Aber dann schlaft doch lieber innerhalb der Mauern, das ist doch sicherer als hier draußen!«

Masia warf einen zweifelnden Blick Richtung Tor.

»Ich wette, das gibt nur Ärger mit der Stadtwache.« Sie schaute sich um. »Wir haben die ganze Zeit im Freien geschlafen, da wird die letzte Nacht mich nicht umbringen. Morgen suche ich dann den Laden meiner Schwester.«

Vinja merkte, dass Masia sich nicht von ihrem Plan abbringen lassen würde und nickte.

»Komm uns besuchen, sobald du kannst«, sagte sie mit belegter Stimme. Sie drehte sich nach vorn und sah, dass ihre Eltern das große Tor erreicht hatten und sich suchend nach ihr umschauten.

»Bis bald!«, rief sie Masia zu, dann drehte sie sich um und lief zum Tor.

»Da bist du ja endlich!«, schimpfte Rigund, als Vinja zu ihnen aufgeholt hatte. »Willst du hier draußen bleiben? Dann trödle nur weiter!«

Vielleicht sollte ich das, dachte Vinja trotzig, doch sie schluckte ihre Widerworte herunter.

Der Torgang, den sie durchqueren mussten, war lang und dunkel. Fast alles wirkte fremd auf Vinja. Instinktiv trat sie näher an den Wagen.

An seinem Ende öffnete sich der Torgang hin zu einer breiten Straße, die schnurgerade auf das Zentrum der Stadt zulief. Auch hier wimmelte es von Menschen. Lärm drang auf Vinja ein, der Lärm von Karren, Füßen und Hufen, von Stimmen, die riefen, sprachen oder flüsterten. Alles ballte sich zu einem Wirrwarr von Geräuschen zusammen, deren Ursprung nicht mehr zu erkennen war. Ein fremder Geruch stieg ihr in die Nase. Für einen Moment wurde ihr schwindelig und sie musste sich am Karren festhalten. Kurz schloss sie die Augen, dann machte sie den letzten Schritt aus dem Gang hinaus.

Über die Straße hinweg, weit entfernt sah sie den Berg, den sie aus der Ferne schon bemerkt hatte. Das Licht der untergehenden Sonne tauchte die Festung auf seiner Spitze in rot-goldene Farben und ließ sie über die gesamte Stadt erstrahlen. Vinja tat einen tiefen Atemzug.

Sie waren in Ijaria angekommen.


Der Untergang Ijarias I - Die Schatten erheben sichWhere stories live. Discover now