V - Vinja (1/4)

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Die Straße war leer und verlassen. Vinja zog den ausgestreckten Kopf zurück und trat leise durch die Tür nach draußen. Vorsichtig schloss sie die Tür der Wäscherei hinter sich. Sie blieb noch einen Moment stehen, lauschte und warf einen Blick an der Fassade hinauf. Als sich nichts regte, drehte sich Vinja um und begann die Straße hinunterzulaufen.

Obwohl sie den Weg zur großen Treppe nun schon viele Male zurückgelegt hatte, gewöhnte sie sich nicht an den heimlichen Schritt aus der Haustür in das Dunkel der schwindenden Nacht, im Gegenteil. Je öfter sie sich hinausschlich, desto eher erwartete sie, dass ihre Eltern sie dabei erwischen würden.

Vinja fragte sich, wie ihr Leben wohl aussehen würde, wenn sie sich nicht mit Helgrin träfe und die Vorstellung gefiel ihr so wenig, dass sie die Treffen mit ihr auf keinen Fall missen wollte. Zwar war sie sich nicht sicher, ob ihre Eltern es ihr verbieten würden, aber sie zu fragen, traute sie sich nicht. Das frühe Aufstehen und die Treffen mit Helgrin machten sie müde und ihre Müdigkeit war Grund für eine Reihe gehässiger Kommentare von Rigund gewesen. Auch ihr Vater bedachte sie bisweilen mit einem missbilligenden Blick, wenn sie beim Gespräch mit einem Kunden gähnen musste, oder bei ihren Aufgaben herumtrödelte.

In der Wäscherei lief es nicht schlecht. Tatsächlich hatte die kostenlose und sehr aufwendige Reinigung des Teppichs die Morgells zufrieden gestellt und sie schickten ihren Diener mit weiteren Kleidungsstücken zur Reinigung. Das hatte sich herumgesprochen und mehr und mehr Adlige, die in der Stadt lebten, brachten Anzüge, Mäntel, Jacken, Kleider und dergleichen mehr vorbei. Belfonso hatte eine lange Liste im Kopf, wessen Kleidung mit wie viel Aufwand zu reinigen war und die meiste Zeit hatten sie alle Hände voll zu tun. Swyn war nicht vorbeigekommen, wohl aber der Diener der Morgells. Wenn er kam, schickten Belfonso und Rigund Vinja ins Hinterzimmer.

Wenn Vinja in solchen oder anderen Momenten an Swyn denken musste, dann kochte sie vor Wut. Helgrin hatte ihr geraten, ihn zu vergessen.

»Du übst nicht seinetwegen, sondern deinetwegen«, hatte sie gesagt, als sie begonnen hatten, das Kämpfen zu üben. »Du willst stark werden, nicht stärker als er.«

Zu Beginn war es Vinja schwergefallen, sich mit diesem Gedanken anzufreunden. Die Begegnungen mit Swyn geisterten ihr abends im Kopf herum und sie stellte sich vor, wie die Situationen anders verlaufen wären. Sie, Vinja, wehrte sich, schlug Swyn nieder und trat ihn, selbst als er am Boden lag. Der Diener musste ihm zur Hilfe eilen, die Umstehenden sie zurückhalten und Swyn winselte um Gnade wie ein geprügelter Hund. Mit der Zeit allerdings wurde ihr klar, dass Helgrin recht hatte. Je öfter Vinja übte, desto weniger dachte sie an Swyn und je besser sie wurde, desto mehr übte sie tatsächlich nur für sich.

Es war das erste Mal, das wurde ihr klar, dass sie etwas nur für sich tat und nicht für ihre Eltern, mal abgesehen von den Kinderspielen, die sie in Halwar mit ihren Freunden gespielt hatte. Diese Zeit schien ihr nun in weiter Ferne zu liegen und Erinnerungen an sie versetzten Vinja immer noch einen Stich. Sie schob die Erinnerungen beiseite, so gut es ging. Egal wie schön es in Halwar gewesen war, sie würden nicht wieder dorthin zurückkehren.

Sie erreichte die Grenze des Lichterviertels, bog auf die breite Straße, die vom Stadttor geradewegs ins Zentrum der Stadt führte, wo sie sich am Fuß der großen Treppe mit Helgrin treffen würde. Helgrin hatte ihr gesagt, dass die Straße ›südliche Himmelsstraße‹ hieß. Jede Himmelsrichtung hatte das passende Gegenstück dazu und diese vier großen Straßen teilten Ijaria in vier nahezu gleich große Teile.

Vinja erinnerte sich noch gut an das erste Mal, als sie die südliche Himmelsstraße zu ihrem ersten Treffen mit Helgrin zurückgelegt hatte. Sie hatte sich große Sorgen gemacht, dass sie auf der Straße geradewegs der Stadtwache in die Arme laufen würde. In Wirklichkeit hatte sie niemand beachtet und Vinja hatte festgestellt, dass die großen Straßen Ijarias nie zur Ruhe kamen. Sicher, es war weniger los als am Tag, aber trotz allem waren die Straßen immer noch voller Menschen. Manche von ihnen waren betrunken und wankten von einer Häuserwand zur nächsten, singend und lärmend. Andere waren Händler, die Karren mit Waren mit sich führten, die Augen immer wachsam auf die Hauseingänge und dunklen Seitengassen gerichtet, die hier und da von der Straße abgingen. Auch die Stadtwache patrouillierte ähnlich wie am Tag. Ihre Gruppen waren größer, bewegten sich weniger und musterten die Vorüberziehenden mit noch finsteren Blicken, als es die Wache tagsüber tat. Vinja hatten sie nie angesprochen, auch wenn sie ihr mit ihren Blicken das Gefühl vermittelten, sehr verdächtig zu sein.

Wenn sie angesprochen wurde, dann eher von den Trinkern oder den Schleichern, wie sie im Kopf diejenigen nannte, die keinem bestimmten Ziel nachzugehen schienen, sich bevorzugt im Schatten aufhielten und ähnlich der Stadtwache alle musterten, die an ihnen vorbeizogen. Oft trugen sie lange Umhänge und Vinja traute ihnen zu, dass sie Waffen darunter verbargen, ein Schwert, oder vielleicht ein langes Messer, womit sie einem unvorsichtigen Kaufmann die Kehle durchschnitten und ihn all seines Hab und Guts beraubten. Vinja ging davon aus, dass sie ahnten, dass bei ihr nichts zu holen war, zumindest kein Geld. Aber manche pfiffen ihr leise zu, wenn sie vorbeiging, flüsterten Anzüglichkeiten oder winkten sie zu sich heran. Vinja hatte schnell herausgefunden, dass es das Beste war, nicht darauf zu achten, den Blick erhoben geradeaus zu richten und weiterzulaufen, wie Helgrin es ihr aufgetragen hatte. Nicht etwa, um Gefahren zu vermeiden, sondern um ihre Ausdauer zu steigern. Anfangs war es Vinja schwergefallen, den ganzen Weg zu laufen und sie hatte viele Pausen einlegen müssen, in welchen sie sich die schmerzende Seite mit der Hand festhielt. Doch mittlerweile konnte sie fast den gesamten Weg ohne Pause zurücklegen, abgesehen davon, wenn sie von weitem die Nachtwache sah. Sie wollte nicht den Eindruck vermitteln, dass sie vor irgendwem davonlief und so verlangsamte sie ihr Tempo stets auf einen schnellen Schritt, der gerade noch als Gehen betrachtet werden konnte.

Wenn sie an der großen Treppe ankam, war sie häufig nicht nur körperlich angestrengt, sondern auch nervlich sehr belastet. Nicht nur einmal wünschte sie sich, sie und Helgrin würden sich zu anderen Zeiten treffen. Doch weder sie noch Helgrin hatten dafür Zeit. Vinja, um ihren Eltern zur Hand zu gehen und Helgrin gehörte der Königsgarde an und schien zahlreichen Pflichten nachgehen zu müssen, auch wenn Vinja nicht wusste, woraus diese bestanden oder was Helgrin eigentlich machte.

Am Ende der Straße kam der Fuß der großen Treppe und der Platz davor, an welchem sie sich treffen würden, in Sicht. Vinja war froh, dass sie im nördlichen Teil des Lichterviertels wohnten und der Weg zur großen Treppe nicht allzu weit war. Hätten sie weiter südlich oder östlich gewohnt, an der Grenze zum Gleißnerviertel etwa, wären die heimlichen Treffen vermutlich gar nicht möglich gewesen. Sie dauerten ohnehin schon viel zu kurz, fand Vinja, aber damit sie zu Hause war, ohne dass ihre Eltern Verdacht schöpften, musste sie sich rechtzeitig auf den Rückweg machen. Ein paar Mal war sie bereits zu spät gekommen und ihre Eltern hatten bereits im Laden gearbeitet. Sie hatte ihnen erzählt, dass sie früh wach geworden und dann spazieren gegangen sei. Rigund hatte das nicht gefallen und ihr aufgetragen, sie solle sich in der Wäscherei nützlich machen, wenn ihr langweilig sei. Seitdem gab sich Vinja besonders Mühe, früh zurückzukehren, und mit einem Besen in der Hand in den Verkaufsräumen zu warten, um ihre Eltern nicht auf die Idee zu bringen, ihr hinterher zu spionieren. Trotz allem hatte Vinja den Eindruck, dass Rigund irgendetwas vermutete.

Vinja hatte den Platz vor der großen Treppe nun fast erreicht. Er hieß ›Platz der Sonne‹ und wie im Lichterviertel war auch er nachts beleuchtet, nur dass es hier heller war. Viel heller, denn Lampen wurden abends rings um den Platz entzündet und sie brannten noch, wenn der Morgen kam.

Auch wenn Vinja nun schon viele Male hier gewesen war, war sie immer noch beeindruckt von dem Anblick, der sich hier bot. Ijaria war, von einigen kleineren Hügeln abgesehen, recht flach. Nur hier, im Zentrum der Stadt, erhob sich ein Fels über alle Häuserdächer hinweg, der zu allen Seiten steil abfiel. Auf der Südseite führte eine Treppe hinauf auf den steinernen Berg, auf welchem weit oben das Herz Ijarias und des ganzen freien Reiches thronte, die Festung des Königs. Legte man am Fuße der Treppe den Kopf in den Nacken, konnte man oben die mächtigen Mauern sehen, die rund um die Festung errichtet waren. Tatsächlich sah man die Festung besser von weitem als von hier. Auch die Treppe machte einen erschlagenden Eindruck. Die Stufen schienen allesamt zu hoch zu sein und ihr Anblick ermüdete Vinja, ohne dass sie überhaupt einen Fuß darauf gesetzt hatte. Seit sie zum ersten Mal hier gewesen war, hatte sie niemanden gesehen, der die Treppe hinaufgestiegen war, geschweige denn herunter. Manchmal saßen auf den unteren Stufen Leute, aber selbst das war in den frühen Morgenstunden nur sehr selten der Fall, zumal der Platz der Sonne zahlreiche Bänke als Sitzgelegenheiten bot. Hier trafen sich drei der vier Himmelsstraßen. Die nördliche endete auf der anderen Seite des Felsens im königlichen Garten. Auch der Garten kam Vinja riesig vor und sie hatte bisher keine Zeit gehabt, ihn genauer in Augenschein zu nehmen. Sie kannte nur einen kleinen Teil, genauer genommen eine Wiese, die vom Platz aus über einen Weg, der am Fuß des Felsens vorbeiführte, schnell zu erreichen war. Hier übte sie mit Helgrin und das war Vinja nur recht, denn hier hatten sie ihre Ruhe und niemand kam vorbei und störte sie.

Der Untergang Ijarias I - Die Schatten erheben sichNơi câu chuyện tồn tại. Hãy khám phá bây giờ