Kapitel 51

772 28 5
                                    

Dank der Aussprache mit Phil, konnte ich die Zeit in Boston in vollen Zügen genießen. Es gab leckeres Essen, ich traf mich mit Schulfreunden, die ebenfalls zu Besuch in der Heimat waren, und Mia und ich schafften es sogar, Phil zum traditionellen fünf Kilometer Lauf an Thanksgiving zu überreden. Dem Grab meiner Mutter statteten wir ebenfalls einen Besuch ab und auf dem Rückweg zum Haus erzählte ich Phil, dass Hailey inzwischen von ihrem Tod wusste. Er war nicht wütend, sondern sah ein, dass er es ihr schon lange hätte erzählen sollen. „Das kann ich auf die lange Liste der Dinge setzen, die ich falsch gemacht habe", murmelte er und kickte missmutig einen Stein beiseite, der etwa zwanzig Meter über den Weg rollte, bis er wieder liegen blieb. „So lang ist die nun auch wieder nicht", beruhigte ich ihn. „Nach allem, was ich in letzter Zeit mitbekommen habe, ist sie definitiv kürzer als die Liste der Dinge, die du richtig gemacht hast."

„Hm, vielleicht. Aber leider wiegen die Fehler manchmal schwerer, als alles andere."

„Du wirst ja wohl hoffentlich nicht aufgeben?", fragte ich besorgt, aber zu meiner Erleichterung schüttelte Phil den Kopf. „Nein, ich werde mich weiter entschuldigen und darauf hoffen, dass sie irgendwann begreift, wie viel sie mir bedeutet."

Mir kam eine Idee, doch ich zögerte sie auszusprechen, da ich nicht wusste, inwieweit ich mich in die Sache einmischen sollte. Aber in einer nicht zu vernachlässigenden Hinsicht trug ich eine Mitschuld an ihrem Streit und wenn ich ihnen bei der Versöhnung helfen könnte, wollte ich diese Chance gerne wahrnehmen. „Nach New York sind es mit dem Bus nur vier bis fünf Stunden", sagte ich und beobachtete, wie Phil die Stirn runzelte. „Und deinen Flug könntest du mit Sicherheit umbuchen."

Mein Bruder sah mich zweifelnd von der Seite an. „Du meinst ich soll zu ihr nach Hause fahren und mit ihr zusammen zurückfliegen?" Als ich nickte, schüttelte er den Kopf. „Ich glaube nicht, dass sie erfreut wäre, mich zu sehen."

„Ich glaube schon", widersprach ich. „Aber selbst wenn nicht... entweder fährst du dann wieder hierher zurück, oder du machst dir zwei schöne Tage in New York."

Wieder runzelte Phil die Stirn. Wenigstens schien er ernsthaft über meinen Vorschlag nachzudenken. „Zu verlieren habe ich eigentlich nichts", stellte er schließlich fest und sah mich mit einem Ausdruck der Entschlossenheit an. „Hast du ihre Adresse?"

Danach konnte es für Phil gar nicht schnell genug gehen. Er buchte seinen Bus und nur wenige Stunden später brachte ich ihn zum Busbahnhof. Mia war etwas überrascht über seine plötzliche Planänderung, doch das Leuchten in seinen Augen, seit er den Entschluss gefasst hatte, meinen Vorschlag zu befolgen, konnte auch sie nicht übersehen.

Bevor es auch für mich zurück zum College ging, half ich Mia noch beim Streichen des Verandadachs und wich ihren Fragen zum Auslöser des Streits zwischen Phil und mir konsequent aus. Ich wollte nicht über Noah reden. Es reichte schon, dass er durchweg in meinen Gedanken präsent war. Hierfür gab es zwei Gründe: einerseits versuchte ich vergeblich, mir einen Reim auf sein Verhalten und seine Aussagen zu machen. Was hatte er gemeint, als er sagte, Phil sei wichtiger? Wenn seine Angst, uns beide zu verlieren, tatsächlich so groß war, wie er einst behauptet hatte, wieso stieß er uns jetzt beide von sich weg?

Und andererseits dachte ich an Noah, weil ich ihn vermisste. Seit wir uns kannten, waren immer nur sehr wenige Tage vergangen, in denen wir uns gar nicht gesehen hatten. Selbst in den letzten Wochen waren wir uns immer wieder begegnet und ich konnte nicht leugnen, dass jede dieser Begegnungen, egal wie kurz sie waren, mein Herz hatte höher schlagen lassen. Ihn nun mehrere Tage am Stück nicht zu sehen und nichts von ihm zu hören, ließ mir erst so richtig bewusst werden, wie sehr ich ihn ins Herz geschlossen hatte. All der Schmerz, den ich seinetwegen gefühlt hatte, schien nebensächlich im Vergleich zu den gemeinsamen glücklichen Stunden. Bis jetzt war ich mir nie wirklich sicher gewesen, ob ich ein Herz- oder ein Kopfmensch war. Aber diese Gefühle ließen keinen Zweifel daran, dass mein Herz deutlich mehr Macht hatte, als mein Verstand. Und das war sehr gefährlich.

don't fall in loveWhere stories live. Discover now