Kapitel 36

865 34 1
                                    

Es wurde einer der schönsten Tage, die ich seit langem erlebt hatte. Wir verbrachten sehr viel Zeit draußen am Strand, besuchten das fußläufig erreichbare Dorf und bekamen von Noah gezeigt, wo es die besten Zimtschnecken des Landes gab.

Ich war froh, den Tag mit Phil verbringen zu können. Obwohl er mindestens genauso oft über Jacobs Witze lachte wie ich, sah ich jedes Mal, wenn unsere Blicke sich begegneten, dass unsere Mutter auch in seinen Gedanken sehr präsent war.

Den Vormittag über blieb Noah ungewohnt ruhig, doch im Laufe des Tages wurde er immer gesprächiger und am frühen Nachmittag schien er Phils Aussage vom Frühstückstisch weitestgehend verdrängt zu haben. Ich wusste, dass er mich beobachtete, spürte immer wieder seinen wachsamen Blick auf mir liegen. Für ihn konnte die Situation auch nicht leicht sein. Zu wissen, dass zwei seiner besten Freunde heute keinen leichten Tag hatten und so tun zu müssen, als hätte man keine Ahnung.

Nach dem Abendessen machten wir es uns im Wohnzimmer gemütlich und durchforsteten den mit Gesellschaftsspielen gefüllten Schrank. Nach allem, was ich bisher über Noahs Familie erfahren hatte, regte sich in mir der Verdacht, dass wir die ersten Personen waren, die diesen Schrank öffneten. Ein paar Diskussionen später einigten wir uns darauf, mit einer Runde Pantomime zu beginnen. Jacob, der eigentlich lieber Strip Poker gespielt hätte - und chancenlos überstimmt wurde - ließ sich auf das riesige Sofa fallen und sagte: „Aber ich spiele ganz bestimmt nicht gegen Phil und Ella. Die beiden wirken wie Geschwister, die jedes Jahr an Thanksgiving und Weihnachten Pantomime gegen ihre Eltern spielen und sich inzwischen blind verstehen."

Ich spürte, wie mir das Blut aus dem Gesicht wich. Mir wurde schwindelig und ich konnte mich gerade noch an der Sofalehne festhalten, sonst hätte ich mit Sicherheit das Gleichgewicht verloren. In meinen Ohren rauschte es, vor meinen Augen verschwamm alles. Ich wusste nicht, wie Phil auf Jacobs Aussage reagierte, ob er sich besser im Griff hatte als ich.

„Wir drei spielen gegen die Mädchen", drang Noahs Stimme nach einer gefühlten Ewigkeit - in Wahrheit waren es vermutlich nur wenige Sekunden - durch das Rauschen. „Die kennen sich doch erst seit ein paar Wochen und sind chancenlos." Dann spürte ich eine Hand auf meinem Rücken. Jemand versuchte, mich aus dem Raum zu führen. „Wir holen noch ein paar Snacks", sagte Noah. Er war derjenige, der mich vor sich her schob, weg von den anderen. Noch immer hatte ich Schwierigkeiten, meine Umgebung wahrzunehmen, weshalb ich mich blind von ihm führen ließ. Daran, dass Noah seine Hand von meinem Rücken nahm und mich stattdessen wortlos in seine Arme schloss, merkte ich, dass wir die Küche erreicht und damit das Sichtfeld der anderen verlassen hatten. Mein Kopf lehnte an seinem Oberkörper und ich versuchte mich auf den Rhythmus der Schläge seines Herzens zu konzentrieren.

Sechs Schläge lang einatmen, sechs Schläge lang ausatmen.

Das Ganze wiederholt ist so oft, bis das Rauschen in meinen Ohren verstummt und der Schwindel verschwunden war. Dann hob ich den Kopf und sah Noah besorgt an.

„Wie geht es Phil? Konntest du sehen, wie er reagiert hat?"

Noah erwiderte meinen Blick mit einem Gesichtsausdruck, den ich nicht zu deuten vermochte. War es Irritation? Oder Faszination? Beides machte wenig Sinn. Bevor ich seine Mimik hinterfragen konnte, sagte Noah: „Er war ein bisschen blass, aber hat sich sonst nichts anmerken lassen. Du wirktest eher so, als könntest du einen Ausweg aus der Situation gebrauchen."

„Danke", entgegnete ich und versuchte all die Dankbarkeit, die ich tatsächlich für ihn fühlte, in meine Stimme zu übertragen. „Ich weiß wirklich nicht, was passiert wäre, wenn du mich da nicht rausgeholt hättest."

Noah nickte nur einmal kurz und runzelte dann die Stirn. „Wie geht es dir, Ellie?"

„Schon etwas besser. Normalerweise bin ich auch ziemlich gut darin, solche Äußerungen zu ignorieren, aber irgendwie hat es mich heute kalt erwischt", erklärte ich. Zuhause in Boston wussten alle Menschen in meinem Umfeld, dass Phil und ich bei meiner Tante lebten und viele kannten auch die Geschichte unserer Kindheit. Fragen wurden nicht oft gestellt. Aber hier wusste niemand über meine Vergangenheit Bescheid. Hier musste ich entscheiden, wem ich die Geschichte erzählte und wessen Fragen ich lieber auswich. Es tat gut zu wissen, dass ich mit Noah, neben Phil, eine weitere Person an meiner Seite hatte, vor der ich nichts verheimlichen musste.

don't fall in loveWhere stories live. Discover now