Kapitel 13

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Jacob beugte sich nach vorne und setzte die leere Flasche von Neuem in Bewegung. Sie drehte sich, erst schnell, dann immer langsamer, und blieb schließlich unbewegt liegen. Der Flaschenkopf zeigte eindeutig in Noahs Richtung. Bevor Jacob überhaupt fragen konnte, sagte Noah schon: „Pflicht."

Grinsend lehnte Jacob sich im Sessel zurück und fuhr sich dann mit der Zunge über die Zähne, während sein Blick durch die Runde glitt. Und an mir hängen blieb. Von mir sah er zurück zu Noah. Und dann zu Phil. Mein Herz klopfte mit einem Mal wie wild. Mach keinen Blödsinn, Jacob, flehte ich in Gedanken.

Es war Freitagabend und aus dem Zusammensitzen und quatschen, von dem Hailey gestern Abend gesprochen hatte, war mittlerweile Flaschendrehen geworden. Bisher war ich verschont geblieben. Olivia hingegen hatte bereits ihr schlimmstes Date-Erlebnis erzählen müssen und Hailey war aufgefordert worden, zu verkünden, ob sie Phil oder mich lieber mochte. Indem sie meinen Namen nannte, und den protestierenden Phil mit einem Kuss zum Schweigen brachte, hatte sie es geschafft, niemanden zu verletzen und die ganze Runde zum Lachen zu bringen. Doch nun lachte niemand mehr, stattdessen sahen alle gespannt zu Jacob und warteten darauf, dass er sich eine Aufgabe für Noah überlegte.

„Noah, was hältst du davon, Ella zu küssen?"

Es war, als hielten alle im Raum die Luft an, so still kam es mir plötzlich vor. Ich sah zu Noah, wollte ihm einen warnenden Blick zu werfen, doch der sah in eine ganz andere Richtung. Ich folgte seinem Blick und sah, wie mein Bruder mit zusammen gekniffenen Lippen die Hände zu Fäusten ballte.

„Eher wenig, wenn ich ehrlich bin", murmelte Noah und warf mir einen entschuldigenden Blick zu, der absolut nicht von Nöten war. Natürlich wollte er niemanden küssen, den er als kleine Schwester sah. Außerdem war ich erleichtert, dass er meinen Bruder ebenso wenig provozieren wollte, wie ich.

Jacob zuckte mit den Schultern. „Mir egal. Pflicht ist Pflicht."

„Jacob..." Noahs Stimme hatte nun einen warnenden Unterton. Aber davon ließ Jacob sich nicht beirren. „Leute, es ist nur ein Spiel. Wenn ihr so verklemmt seid, solltet ihr gar nicht erst mitspielen", sagte er. In den letzten Wochen war Jacob mir oft dadurch aufgefallen, dass er für gute Stimmung sorgte und das Leben grundsätzlich nicht allzu ernst zu nehmen schien, doch hiermit hatte er den Bogen überspannt. Wollte er wirklich wegen eines Spiels die Freundschaft zwischen Noah und Phil auf's Spiel setzen? Denn darauf lief es hinaus. Ich sah, wie Hailey nach Phils Hand griff und die Faust öffnete. Dann sagte sie etwas zu ihm, so leise, dass ich es unmöglich verstehen konnte. Daraufhin verdrehte mein Bruder die Augen und machte eine Wegwerfbewegung mit seiner anderen Hand. „Macht doch, was ihr wollt", murmelte er und sah stur auf die auf dem Tisch liegende Flasche.

Ich sah zu Noah und auch er sah mich an. In seinem Blick lag eine unausgesprochene Frage. Er ließ mir die Wahl. Ich nickte einmal kurz. Im Prinzip hatte Jacob Recht, es war nur ein Spiel und alle anderen hatten ihre Aufgaben bisher auch erfüllt. Und es wäre gelogen zu behaupten, dass ich es mir nicht vorgestellt hatte, wie es wäre, Noah zu küssen. Aber nicht so. Nicht, weil Noah dazu verpflichtet war. Nicht vor unseren Freunden, nicht vor meinem Bruder. Nicht gegen Noahs Willen.

Noah stand auf und ging um den Tisch herum. Erst als er vor mir stand, erhob auch ich mich vom Sofa und war ihm wieder so nah, dass mir sein Geruch in die Nase stieg und meine Gedanken benebelte. Noah war gut einen Kopf größer als ich, sodass ich nun nach oben schauen musste, um seinem Blick zu begegnen. Wenn schon sein bloßer Geruch mich derart aus der Bahn warf, wie würde ich dann reagieren, wenn er mich küsste? Er fuhr sich mit den Zähnen über die Unterlippe, dann hob sich sein linker Mundwinkel zum Anflug eines Lächelns. Langsam – mir kam es vor, als geschehe alles in Zeitlupe – beugte er sich zu mir herunter und hob gleichzeitig seine Hände und legte sie an meine Wangen, sodass er mein Gesicht festhielt. Ich schloss die Augen und hielt die Luft an. Ich spürte an seinem Atem, dass er mit seinem Gesicht dicht vor meinem inne hielt. Und dann trafen seine Lippen auf meine. Sie waren weicher, als ich erwartet hatte. Weich und gleichzeitig fest schmiegten sie sich an meine Lippen, schienen mit ihnen zu verschmelzen. Ich erwiderte den Kuss, bewegte meine Lippen im Einklang mit seinen, öffnete sie leicht und spürte seinen warmen Atem in meinen Mund strömen. Mein gesamter Körper reagierte auf diesen Kuss, wie ich es nie zuvor erlebt hatte. Ich wollte mehr, wollte meine Hände in seinen Haaren vergraben, wollte seinen Körper dichter an meinen ziehen. In erster Linie jedoch wollte ich nicht, dass dieser Kuss endete. Aber das tat er. Viel zu schnell. Noah löste seine Lippen von meinen und ließ seine Hände sinken, blieb aber dicht vor mir stehen. Ich öffnete meine Augen und sah ihn an. Sein Blick war unergründlich.

„Okay, das hätten wir auch erledigt", stellte Jacob fest und unterbrach damit die fast magische Stille. Noah kniff kurz die Augen zusammen, als müsste er sich konzentrieren. Als er sie wieder öffnete, sah er mich nicht mehr an, sondern senkte seinen Blick zum Boden und trat dann einen Schritt zurück. Nach kurzem Zögern drehte er sich um und ging die wenigen Schritte zurück zu seinem Platz. Auch ich ließ mich wieder auf das Sofa sinken und hoffte, dass man mir nicht ansah, was dieser Kuss in mir ausgelöst hatte. Ich wagte einen Blick in Noahs Richtung und sah, wie er sich mit den Fingern über die Lippen fuhr.

Erst in diesem Moment realisierte ich, dass es nicht die Freundschaft zwischen Noah und Phil war, die plötzlich auf dem Spiel stand.

Den Rest des Abends vermied ich es konsequent, in Noahs Richtung zu schauen. Ich wollte nicht sehen, was sich in seinem Gesicht abspielte. Ich wollte die Reue in seinen Augen nicht sehen, wollte nicht sehen, wie er sich darüber ärgerte, Jacobs Pflicht ausgeführt zu haben. Ich konnte mich ohnehin darauf verlassen, dass Olivia Noah ganz genau beobachten und jede seiner Bewegungen analysieren würde.

Die Stimmung zwischen Noah und Phil blieb angespannt, und das schienen alle zu merken, weshalb das Projekt Flaschendrehen bald beendet wurde und die ersten Leute sich verabschiedeten. Auch mein Bruder und Hailey erhoben sich irgendwann, vermutlich mit dem Wunsch nach mehr Zweisamkeit.

„Warte, Phil", hielt Noah ihn auf. Es war das erste mal seit unserem Kuss, dass er sich zu Wort meldete. Phil sah ihn mit gerunzelter Stirn an, dann nickte er und sagte leise etwas zu Hailey. Als sie sich küssten, wandte ich den Blick ab und er fiel unbeabsichtigt auf Noah. Obwohl er eben noch mit Phil gesprochen hatte, sah er in diesem Moment mich an. Mein Magen zog sich zusammen, als unsere Blicke sich trafen. Noah wirkte müde, erschöpft. Ich wandte schnell den Blick ab, damit er auf keinen Fall in meinen Augen lesen konnte, was mir durch den Kopf ging. Niemals durfte er erfahren, wie sehr ich mir in diesem Augenblick wünschte, er hätte mich aufgehalten und nicht Phil. Aber die Freundschaft zu Phil war für Noah wichtiger als das, was sich in den letzten Wochen zwischen uns beiden entwickelt hatte.

Hailey setzte sich zu Olivia und mir, während Phil und Noah gemeinsam den Raum verließen. Mittlerweile waren so wenig Leute übrig, dass sich kleinere Gesprächsgruppen bildeten. Sobald die beiden Jungs verschwunden waren, vergrub ich mein Gesicht in den Händen. Ich spürte, wie mir jemand über den Rücken strich und vermutete Olivia.

„Alles okay?", fragte sie und bestätigte damit meinen Verdacht. Ich schüttelte den Kopf, richtete mich jedoch auf und ließ meine Hände sinken.

„Phil wird sich wieder beruhigen, keine Sorge", versicherte Hailey mir von der anderen Seite. „So ist das Spiel eben."

„Tolles Spiel", murmelte ich, ohne zugeben zu wollen, dass mein Bruder gerade meine geringste Sorge war.

„Ich glaube Noah fand das Spiel ganz nett." Schnaubend schüttelte ich den Kopf. Olivia redete mal wieder absoluten Blödsinn.

„Hast du nicht gehört, was er gesagt hat, als Jacob ihm die Pflicht genannt hat?", fragte ich sie mit hochgezogenen Augenbrauen. Aber Olivia winkte ab. „Was hätte er denn sonst vor deinem Bruder sagen sollen? ‚Ja, ich kann mir nichts schöneres vorstellen?' Er hatte ja keine andere Wahl als so zutun, als würde er das nicht wollen", behauptete sie, aber ich musste ihr widersprechen.

„Nein, er hat es gesagt, weil es stimmt. Und alles was dieser Kuss bewirkt hat, ist, dass es jetzt zwischen uns komisch wird. Unsere Freundschaft kann ich vermutlich vergessen."

„Wenn du wirklich nur mit ihm befreundet sein möchtest, steht dem nach wie vor nicht im Wege", mischte sich nun wieder Hailey ein. „Ihr müsst nur darüber reden und dann könnte ihr bald bestimmt darüber lachen." Ich schenkte ihr ein dankbares Lächeln. Wenigstens eine meiner Freundinnen unterstützte mich in meinem Vorhaben, Noah als Freund zu sehen, anstatt meine Hoffnungen in realitätsferne Höhen zu treiben. Aber ich wusste, dass Olivia es nur gut meinte.

„Ihr seid so unfassbar unromantisch", beschwerte sich Olivia. „An dem Kuss war überhaupt nichts freundschaftliches, das hat man doch gesehen." In diesem Punkte musste ich ihr im Stillen recht geben – wie ein freundschaftlicher Kuss hatte es sich definitiv nicht angefühlt.

Olivia und Hailey brachten mich zu meinem Wohnheim, sodass niemand von uns dreien im Dunkeln alleine über den Campus gehen musste. Auf dem Heimweg beschloss ich aufzuhören, mir so viele Gedanken über Noah zu machen. Ich würde in den nächsten Tagen mit ihm reden, und herausfinden, ob unsere Freundschaft zu retten war. Und wenn sie das nicht war, konnte ich mich immer noch glücklich schätzen, mit Olivia und Hailey zwei Freundinnen an meiner Seite zu haben, die mir in nur wenigen Wochen dichter ans Herz gewachsen waren, als die meisten meiner Freunde zurück in Boston. 

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