Kapitel 11

1K 32 7
                                    

„Apropos Boston", sagte Noah und beendete damit die Diskussion darüber, wer von uns beiden die beste Eisdiele kannte. „Darf ich dich etwas persönliches fragen?"

Ich nickte, gespannt, was ihn interessierte.

„Wieso spricht Phil nie über eure Eltern?"

Damit wäre die Frage, wie viel mein Bruder Noah über unsere Kindheit erzählt hatte, dann wohl geklärt. Eigentlich hätte ich es mir denken können. Auch ich sprach nicht gerne über die Vergangenheit, aber Phil war noch einmal eine ganz andere Hausnummer. Ich rührte mit dem Plastiklöffel im Eisbecher umher, dessen restlicher Inhalt mittlerweile geschmolzen war. Wie sollte ich auf diese Frage antworten? Wo sollte ich beginnen?

„Wir haben keine Eltern", war die Antwort, für die ich mich schließlich entschied.

Ich sah Noah nicht an, wollte nicht die Mischung aus Neugierde und Mitleid sehen, mit der mich jeder anschaute, der von meiner Vergangenheit erfuhr. Ich sah zum Horizont und wartete darauf, dass Noah weiterfragte, nachhakte. Doch das tat er nicht. Stattdessen schwieg er und ließ mir damit die Wahl. Die Wahl, ob ich mehr dazu sagen oder einfach das Thema wechseln wollte. Und gerade weil er mir die Wahl ließ – und weil er Noah war – erzählte ich ihm von meinen Eltern.

„Wir haben einen Erzeuger. Irgendwo auf der Welt. Aber der war verschwunden, bevor ich meinen Kopf alleine halten konnte und hat seitdem nichts mehr von sich hören lassen. Einen Vater hatten Phil und ich also nie so wirklich. Aber wir hatten eine Mutter." Ich hielt inne, um tief durchzuatmen. Noch immer wartete ich darauf, dass es irgendwann leichter werden würde, darüber zu reden. Aber die Erinnerung schmerzte noch immer wie am ersten Tag. Jahre später.

„Wir hatten eine Mutter", fuhr ich fort und verbuchte es als Erfolg, dass meine Augen trocken blieben. „Wir hatten eine wundervolle Mutter, die leider überfordert mit dem Leben war."

Noah schwieg noch immer, aber ich sah aus dem Augenwinkel, dass er aufgehört hatte, sein Eis zu essen. Seine volle Konzentration lag auf mir und ohne mich dazu gedrängt zu fühlen, erzählte ich weiter.

„Sie hatte einen katastrophalen Männergeschmack, der ihr zum Verhängnis geworden ist. Obwohl Phil und ich nie einen Vater hatten, gab es sehr viele Männer in unserer Kindheit. Unsere Mutter hat ihr bestes gegeben, um uns vor ihnen zu beschützen, nur leider hatte sie dann keine Kraft mehr, um sich selbst zu schützen. Ich weiß nicht, was alles vorgefallen ist... Phil hat deutlich mehr mitbekommen als ich. Aber ich weiß, dass diese Männer unsere Mutter in die Sucht getrieben haben. Erst waren es nur Tabletten, später auch ganz anderes Zeug. Es ging ihr immer schlechter und trotzdem hat sie immer weiter versucht, für uns da zu sein. Ihre Bemühungen ging so weit, dass sie komplett zugerdröhnt zum Elternabend von Phil gegangen ist und da wurde das Jugendamt zum ersten Mal auf uns aufmerksam. Und wenn die einmal auf einen aufmerksam geworden sind, wirst du sie nicht wieder los. Ich war neun, Phil war elf, als entschieden wurde, dass unsere Mutter nicht mehr dazu in der Lage war, sich um uns zu kümmern. Wir sind zu unserer Tante gezogen und rein logisch betrachtet, war das für Phil und mich die beste Entscheidung. Wir wohnen noch immer bei ihr, jetzt natürlich nur noch in den Ferien, und sie hat sich immer so gut um uns gekümmert, wie sie nur konnte."

Am liebsten hätte ich die Geschichte an dieser Stelle beendet. Es wäre ein versöhnliches Ende. Aber die Realität sah anders aus.

„Und deine Mutter?", fragte Noah mit leiser, fast brüchiger Stimme. Ich zog mir die Ärmel meines Pullovers über die Hände, obwohl mir nicht kalt war.

„Sie kam nicht damit klar, dass wir ihr weggenommen wurden. Sie hat sich vorgeworfen, versagt zu haben. Für eine Weile wirkte es, als sei das der Anreiz, den sie gebraucht hatte, um wieder auf die gerade Bahn zu kommen. Aber dann ist sie gescheitert und es wurde schlimmer als jemals zuvor." Ich versuchte die Tränen wegzublinzeln, die sich nun doch in meinen Augen sammelten. „Meine Mutter ist zwei Tage nach meinem zehnten Geburtstag gestorben."

don't fall in loveWhere stories live. Discover now