Kapitel 47

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Abwartend saß ich wieder neben Valerian. Ich fixierte den Tisch vor uns und konnte an nichts anderes als den Kuss ein paar Minuten zuvor denken. Seine weichen Lippen auf meinen zu spüren war ein unbeschreiblich schönes Gefühl gewesen. Immer noch spielten meine Gefühle verrückt und es viel mir schwer einen klaren Gedanken fassen zu können.

Mein Blick war starr und ich versuchte mich schon einmal auf das vorzubereiten, was Valerian mir gleich erzählen würde. Es musste etwas sehr Schreckliches in seinem Leben passiert sein. Doch ganz egal was es war, ich werde für ihn da sein. So wie er damals für mich.

Ich konnte seine Nervosität spüren. Auch das plötzliche Zittern seiner Hände entging mir nicht. Um Valerian zu beruhigen legte ich meine Hand auf seine bebenden. Sofort griff er nach meiner warmen, rechten Hand und drückte sie fest in seinen.

Sein Atem war unnatürlich ruhig. Mit schroffer Stimme begann er sein traumatisches Erlebnis zu schildern: „Es passierte kurz vor den Sommerferien. Kurz bevor die echte Bianca spurlos verschwunden ist. Meine Mutter und mein Bruder waren schon seit eine paar Tagen krank. Beide hatten starke Bauchschmerzen, plötzliche Übelkeit, Erbrechen und Durchfall. Drei Tage nach dem Auftreten der Symptome kam ich an einem gewöhnlichen Donnerstag von der Schule nach Hause. Sofort merkte ich, dass etwas nicht stimmte. Es war so ruhig. Totenstill. Nervös rief ich nach meiner Mutter und nach meinem Bruder. Doch ich bekam keine Antwort. Beunruhigt hatte ich das Wohnzimmer aufgesucht. Denn dort hatten es sich die beiden Kranken gemütlich gemacht. Wir hatten eine große Couch, wo zwei problemlos liegen konnten. Als ich das Zimmer betreten hatte, sah ich zwei in ihre Decken eingemummte Körper. Sogleich hatte ich mich entspannt, da ich dachte, sie würden nur schlafen. Also hatte ich sie in Ruhe gelassen. Ich war in mein Zimmer gegangen und habe meine Hausübungen erledigt. Plötzlich hatte ich die hysterische Stimme meines Vaters nach mir schreien gehört. Er war gerade von der Arbeit zurückgekommen. Nichts ahnend hatte ich das Zimmer verlassen und folgte der unruhigen Stimme meines Vaters. Erneut hatte er nach mir geschrien. Verwirrt war ich dem Geräusch ins Wohnzimmer gefolgt. Dort hatte mein Vater gestanden. Kreideweiß hatte er auf die Körper auf der Couch gestarrt. Ich hatte ihn gefragt, was los sei. Ohne auf meine Frage einzugehen hatte er geschrien, ich solle die Rettung rufen. In diesem Moment war mir die ganze Situation erst bewusst geworden. Meine Mutter und mein Bruder... sie schliefen nicht."

Valerians Stimme versagte. Ausdruckslos starrte er auf unsere immer noch verknoteten Hände herab. Tränen glitzerten in seinen Augen und er klammerte sich fester an meine mittlerweile schon taube Hand. Es musste Valerian viel Überwindung gekostet haben mir auch den Rest zu erzählen.

Flüsternd nahm er den Faden wieder auf: „Sie schliefen nicht. Sie waren tot! Die Rettung konnte nichts mehr für meine Mutter und meinen Bruder tun. Bei der Obduktion wurde eine Pilzvergiftung festgestellt. Die beiden waren ein paar Tage zuvor Pilze sammeln gewesen. Meine Mutter hatte daraus eine Suppe gemacht. Da ich keine Pilze mochte, habe ich nichts davon gegessen und mein Vater kam erst spät am Abend von der Arbeit nach Hause. Zu dem Zeitpunkt war nichts mehr von der Pilzsuppe über. Anscheinend war meiner Mutter und meinem Bruder ein giftiger Knollenblätterpilz untergekommen, der für beide tödlich geendet hatte. Die Todesursache war bei beiden ein Leber- und Nierenversagen gewesen."

Ein Anflug von Mitleid durchflutete meinen Körper. Die letzten Sommerferien mussten ein Horror für Valerian gewesen sein. Er hatte nicht nur seine große Liebe, Bianca, verloren sondern auch seine Mutter und seinen Bruder. Es war nahezu unmöglich, wie gut Valerian sein Leid verdrängen konnte.

Nie im Leben hätte ich gedacht, dass Valerian schon so viele Verluste einstecken musste. Wie konnte jemanden so viel Leid widerfahren? Mein Herz schmerzte und ich fühlte mich Elend.

Die ganze Zeit über hatte ich nichts von seinem Kummer gemerkt. Vielleicht hatte ich nicht einmal darauf geachtet. Meine eigenen Sorgen und Bedürfnisse standen immer an vorderster Stelle. Alle anderen waren mir scheinbar komplett egal.

Wobei das überhaupt nicht stimmte. Valerian bedeutete mir so unendlich viel. Er war gerade der einzige dem ich mich öffnen und anvertrauen konnte. Vielleicht war Valerian auch der wichtigste Mensch in meinem Leben geworden.

Jetzt saß er neben mir und traute sich nicht mir in die Augen zu schauen. Und ich saß schweigend neben ihm und starrte ihn sprachlos an. Beschämt versuchte ich irgendwelche passenden Worte aneinanderzureihen. Vergebens.

Also schloss ich den, mit den Tränen kämpfenden, Jungen in die Arme. Noch nie hatte ich Valerian so zerbrechlich und unendlich hilflos gesehen. Es war fast so, also würde ich meinem eigenen Spiegelbild entgegensehen. Wir beide waren an unseren zwei verschieden Schicksalen zerbrochen.

Langsam wurden auch meine Augen wieder feucht. Ich versuchte mich zusammenzureißen. Einer von uns musste stark bleiben und in diesem Fall musste ich diese Person sein. Doch ich scheiterte. Im nächsten Moment krallte ich mich fester in die Umarmung.

Auch Valerian schien sich Hilfe suchend an mir festzuhalten. Es fühlte sich so an, als wären wir gegenseitig unsere Rettungsringe, die uns vor dem Ertrinken bewahrten. Wenn wir uns jetzt los ließen würden wir untergehen und in die kalte, unerbittliche Tiefe gerissen werden.

Ich spürte Valerians flachen Atem auf meinem Nacken und das Zittern seines Körpers. Ich hatte das Gefühl Valerian lag noch etwas auf dem Herzen.

Vorsichtig löste ich mich aus der Umarmung und schaute Valerian mit verweinten Augen aber festen Blick an: „Danke das du dich mir anvertraut hast. Das bedeutet mir sehr viel. Aber trotzdem habe ich das Gefühl, dass das noch nicht alles war, was du mir sagen wolltest."

Valerian schaute mir mit unendlich traurigen Augen entgegen. Mit schwacher Stimme flüsterte er: „Ich hätte das alles verhindern können." Verwirrt schaute ich ihn an und meinte bestimmt: „Valerian, rede doch keinen Unsinn. Du bist der letzte der die Schuld daran trägt."

Der Blick des Jungen wurde ernst und hart: „Nein, Gracie, das stimmt nicht. Ich hätte die beiden retten können. Verstehst du das nicht? Wenn ich gleich nach dem ich nach Hause gekommen war, die Rettung gerufen hätte, dann würden sie jetzt noch am Leben sein. Oder wenn ich mit ihnen Pilze sammeln gewesen wäre. Ich kenne mich ein wenig mit giftigen und ungiftigen Pilzen aus. Vielleicht hätte ich erkannt, dass ein ungenießbarer Knollenblätterpilz meiner Mutter und meinem Bruder untergekommen war."

Bestimmt griff ich nach seiner Hand und drückte sie kurz. Dann erwiderte ich mit fester Stimme: „Das sind aber alles nur Möglichkeiten. Vielleicht waren deine Mutter und dein Bruder schon tot als du nach Hause gekommen bist und vielleicht hättest auch du den Knollenblätterpilz als solchen nicht erkannt. Das sind alles nur Vermutungen. Es ist wie es ist. Ich kann den Tod meiner Schwester auch nicht mehr rückgängig machen und an dem war ganz allein ich schuld. Aber du musst zulassen, dass deine Wunden verheilen können. Höre auf immer wieder in ihnen herumzustochern und sie wieder aufzureißen. Ansonsten werden sie nie verheilen können. Suche dir, wenn es nötig ist Hilfe. Auch für mich hat dieser Schritt der Eingeständnis lange gedauert. Für mich war aber auch niemand da gewesen. Alle sahen in mir das mordende Monster, das kaltherzig tötete und allen den Tod wünschte. Und dies alles nur wegen einem Unfall. Aber ich bin für dich da. Ich möchte für dich da sein und dir helfen das Geschehene zu verarbeiten. Verdrängen hilft doch auch nicht."

Valerian schaute mich mit einem undefinierbaren Blick an. „Es war nicht deine Schuld. Das Ding in dir hatte Besitz von dir ergriffen und deine Schwester ermordet", erinnerte mich Valerian.

„Ja stimmt schon. Aber ich habe es nicht verhindert", entgegnete ich schuldbewusst. Traurig senkte ich meinen Kopf und wiederholte noch einmal leise meine letzten Worte: „Ich habe es nicht verhindert."

So saßen wir da schweigend und in unseren eigenen Erinnerungen gefangen. Ich hatte aufgehört zu weinen und Valerian hatte sich auch wieder halbwegs gefasst. Unser Zusammenkommen hatte ich mir etwas anders vorgestellt. Trotzdem war ich froh über Valerians Vergangenheit Bescheid zu wissen.

„Wie ist eigentlich dein Vater mit dem Tod seiner Frau und seinem Sohn umgegangen?", rutschte mir die nächste Frage heraus, die ich im Nachhinein lieber wieder zurückgenommen hätte.

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