Kapitel 14

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„Gracie?", hörte ich eine bekannte Stimme fragen. Erschöpft öffnete ich meine Augen und blickte direkt in Valerians hellgraue Augen. Unsicher schaute ich ihn an. Dann realisierte ich, dass ich auf der Bank vor der Schule eingeschlafen war.

Ich spürte wie eine leichte Röte in meine Wangen schoss. Was war nur los mit mir? Was wenn meine Eltern mich dort schlafend gefunden hätten?

„Ist alles okay bei dir?", fragte Valerian mich vorsichtig, nach dem ich meine Gedanken geordnet hatte. Traurig nickte ich mit dem Kopf und unterdrückte die aufkommende Tränenwelle. Ich wollte Valerian nicht schon wieder mit meinen Problemen belasten.

Ich fühlte mich so schwach und kraftlos wie noch nie zuvor. Meine Oma war zu meinen Eltern gegangen. Ein Mann beschattete mich und ich hatte mich nicht im Griff. Konnte dieser Tag überhaupt noch schlimmer werden?

„Komm, stehe auf. Ich muss dir jemanden vorstellen", sagte der Junge mit strahlenden Augen und einem überglücklichen Lächeln auf den Lippen.

Mir war Valerians gute Laune noch gar nicht aufgefallen. Wahrscheinlich, weil ich wieder einmal nur an mich dachte. Wie immer. Erst jetzt wurde mir bewusst, wie egoistisch ich doch eigentlich war. Ständig ging es nur um mich.

Also sammelte ich mich und lächelte Valerian freundlich zurück. Auch wenn ich nicht noch eine Person kennenlernen wollte, würde ich mir das nicht anmerken lassen.

Ich stand von der Bank auf und wurde so gleich von Valerian in das Schulgebäude gezogen. Wir blieben vor einem Mädchen stehen, welches mit dem Rücken zu uns stand und gerade ihren Spind einräumte. Hatten wir eine neue Mitschülerin?

Neugierig beobachtete ich das Mädchen. Sie hatte schöne glatte goldbraune Haare und eine perfekte Taille. Valerian räusperte sich und die Neue drehte sich um. Sie lächelte uns freundlich an.

Aber ich erstarrte als ich sie sah. Das Mädchen kam mir bekannt vor. So als hätte ich sie schon einige Male gesehen. Doch mir vielen keine Orte oder Personen ein, die ich mit ihr verbinden konnte. Vielleicht sah sie einfach einer Person, die ich kannte, sehr ähnlich.

Trotzdem hatte ich bei ihrem Anblick ein ungutes Gefühl im Magen. Schon allein ihr aufgesetztes Lächeln verhieß nichts Gutes. Etwas stimmte an ihr nicht. So als hätte sie bösartige Absichten. In jede Zelle meines Körpers schrillten jegliche Alarmglocken.

„Das ist Bianca", stelle Valerian mir die Neue vor. Der Namen schien in mir keine Erinnerungen hervorzurufen und ich hatte nicht das Gefühl, dass der Name Bianca zu dem lächelnden Mädchen vor mir passte. Noch nie kam mir ein Vorname so unpassend vor.

Valerian hatte ihn mir gegenüber schon einmal erwähnt. Trotzdem starrte ich Bianca regelrecht an. Sie sah so perfekt aus. Reine Haut, volle Lippen, große Rehaugen und eine gerade Nase. Wie konnte ein Gesicht so symmetrisch sein?

„Und das ist Gracie", stellte Valerian nun auch mich vor. Bianca lächelte mir immer noch freundlich entgegen, aber in ihren Augen blitzte eine undeutbare Emotion auf.

Sie wusste also wer ich war. Warum konnte ich mich also nicht an Bianca erinnern? Mir kam ihr Auftreten so vertraut vor, aber ich konnte mich an keinen gemeinsamen Moment mit ihr erinnern.

„Ich dachte Bianca wäre spurlos verschwunden", flüsterte ich Valerian verwirrt zu. Doch er lächelte einfach verlegen Bianca an. „Stimmt, dass ließ ich alle glauben. Aber ich brauchte einfach ein halbes Jahr Pause von der Schule und den Schülern", antwortete mir stattdessen Bianca auf meine Frage.

Schweigend sah ich sie an. Auch wenn ich es nicht beweisen konnte, wusste ich, dass sie log. Das Läuten der Schulglocke unterbrach die gedrückte Stille und wir machten uns auf den Weg zu unseren Unterrichtsräumen.

Nach der Schule wartete ich auf Valerian. Er kam ein paar Minuten nach mir aus dem Schulgebäude. Doch er war nicht allein. Valerian hatte einen Arm um Bianca gelegt. Sie schienen sich gut zu amüsieren, denn beide lachten herzlich auf.

Ein Schmerz durchzuckte meinen Körper und ich senkte meinen Blick. Ich sah noch einmal auf. Nur um enttäuscht festzustellen, dass Bianca und Valerian bei Valerians Freunden stehen geblieben sind. Er hatte mich nicht einmal bemerkt.

Mit schwerem Herzen lief ich nach Hause. Es war ein weiter Weg, aber ich hatte sowieso nichts mehr vor und zu Hause saß wahrscheinlich immer noch der alte Mann in der Küche.

Plötzlich überkam mich eine Welle von Einsamkeit. Ich hatte alles verloren. Es war nicht das erste Mal, aber jetzt tat es mehr weh, weil ich nicht darauf vorbereitet war. Okay, das war ich die anderen Male auch nicht, aber dieses Mal wusste ich nicht wie es jetzt weiter gehen sollte.

Der einfache Gedanke daran, dass ich jetzt nirgendwo mehr hin konnte, verpasste mir den Rest und ich konnte keine weitere Tränenwelle zurückhalten. Ich hatte keine anderen Großeltern und den Rest meiner Verwandtschaft kannte ich nicht oder sie wollten nichts mit mir zu tun haben.

Ich stieß mit meinen Schuhspitzen ab und zu einem Kieselstein aus dem Weg. Ohne über den Weg nachzudenken ging ich weiter. Ich vertraute darauf, dass meine Füße mich sicher nach Hause brachten.

Aber hatte ich überhaupt noch ein Zuhause? Natürlich konnte ich immer noch zu meinen Eltern zurückkehren, aber das wäre eher ein Gefängnis als ein Zuhause.

Im nächsten Moment stand ich vor dem Haus meiner Oma. Die Haustür war immer noch offen und ich betrat das kleine Gebäude. Schnell rannte ich in mein Zimmer und sperrte mich in dieses ein. Dann überprüfte ich die zugezogenen Vorhänge, um mich daraufhin in meine Bettdecke zu kuscheln.

Ohne dass ich es wollte, begann ich zu weinen. Dieses schreckliche Gefühl der Einsamkeit drohte mich von innen zu zerstören. Der ganze Tag war einfach viel zu viel für mich gewesen und ich wollte, dass diese vierundzwanzig Stunden endlich vorbei waren.

Ein leises Klopfen an meiner Zimmertür riss mich aus meinen Gedanken. Schniefend stand ich auf und schloss die Tür auf. Mir war so egal wer davor stand, jetzt konnte der Tag nicht mehr schlimmer werden.

Trotzdem war ich überrascht, als mir die grauen Augen des alten Mannes unsicher entgegenblickten. Er lächelte mir das erste Mal zu und fragte in einem möglichst freundlichen Ton: „Darf ich hineinkommen? Ich möchte mit dir reden."

TeufelswerkWhere stories live. Discover now