Kapitel 17

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„Bist du dir sicher, dass meine Oma freiwillig zu meinen Eltern gegangen ist?", zischte ich den alten Mann verärgert an. Er geisterte immer noch im Haus meiner Großmutter umher, als ich von der Schule nach Hause gekommen war.

Ich fing seinen verwirrten Blick nur verärgert auf. Wynn schwieg weiterhin und das sprach für meine Vermutung. Die ganze Zeit über hatte er mich belogen. Kaltherzig im Fehlglauben gelassen, dass jemand überhaupt freiwillig an meine Eltern geraten wollte.

„Weiß meine Oma überhaupt, dass du existierst?", stieß ich verletzt heraus, da ich schon wieder eiskalt belogen worden war. Ich spürte wie die Wut langsam, aber stetig in mir Aufstieg.

Doch dieses Mal war es mir egal. Dieser Verräter konnte ruhig mein wahres Ich sehen. Meine sozusagen zweite Persönlichkeit. Die bösartige Kreatur, die in mir wucherte, bis sie mich schließlich zu Boden geworfen hatte.

Wahrscheinlich wusste Wynn über mich schon längst Bescheid. Wusste was für eine Gefahr das Wesen in mir war und in welche er sich begab.

Ich war kurz davor meine Brille abzusetzen und Wynn mein zweites Gesicht zu zeigen. Das Ding würde Wynn in seine Bestandteile zerlegen und ich müsste diesem Lügner endlich nicht mehr gegenüber stehen.

Dem Mann schien die brenzliche Situation langsam ebenfalls bewusst zu werden. Er hob beschwichtigend die Arme und ging auf die Knie, um weniger bedrohlich zu erscheinen.

„Beruhig dich, Gracie. Ich bin nicht dein Feind, ich möchte dir helfen und deine Stör-" „Meine Störung?", unterbrach ich ihn fassungslos schreiend.

Ich musste mich beherrschen, um nicht jegliche Kontrolle zu verlieren und dem Wesen die Türen in die Außenwelt zu öffnen. Noch war es nicht zu spät. In den vielen Jahren hatte ich wenigstens eines gelernt: Mich und den Fremden in mir beruhigen zu können.

Dies half mir in solchen Situationen sehr. Andererseits würde ich meine Selbstbeherrschung Wut geleitet über Bord werfen und mich dem Zorn hingeben. Doch die Vernunft war stärker. Ich wollte niemanden verletzen. Auch nicht, wegen einer aufbauenden Unebenheit in meiner Stimmung.

„Beruhig dich", wiederholte ich gestresst immer wieder in meinem Kopf. Der alte Mann schien erschrocken verstummt zu sein. Er hatte kein weiteres Wort hervorbringen können.

Er hatte sein halb angefangenes, unstimmiges Wort noch immer nicht zurückgenommen. Weshalb sich mein Blick nur immer mehr verfinsterte.

„Was ist hier los, Wynn? Ich möchte endlich antworten haben. Stattdessen tischt du mir eine Lüge nach der anderen auf. Ich ertrage es nicht länger von jedem, dem ich vertraut habe, nach Strich und Faden belogen zu werden", sagte ich nach einiger Zeit des Schweigens.

Meine Stimme hatte einen traurigen und gebrochenen Unterton angenommen. Ich hatte mich wieder vollkommen beruhigt. Meine Wut hat sich in Trauer und Schmerz verwandelt.

Ich konnte nicht verstehen, warum mir alle das Gefühl gaben mir etwas vormachen zu müssen. Glaubten sie ich würde es sonst nicht verstehen? Dachten sie es wäre besser für mich, wenn ich nichts davon erfahren würde?

Ich war wieder einmal kurz vor einem Nervenzusammenbruch. Als mir ein plötzlich ein eingesagter Gedanke in den Kopf schoss:

Lauf!

Ohne wirklich zu wissen was ich tat, stürmte ich aus dem Haus und brachte mich hinter dem nächstgelegenen Gebüsch in Deckung. Verwirrt über meine Reaktion verharrte ich dort einige Sekunden.

Dann hörte ich es. Ein näherkommendes Auto. Zuerst dachte ich, es würde vorbeifahren, doch ich irrte mich. Das Fahrzeug hielt direkt vor dem Haus meiner Großmutter an.

Mir stockte der Atem, als ich die Stimme meines Vaters hörte: „Ihr bleibt hier. Ich werde allein das Gebäude betreten und die Lage analysieren. Wynn müsste Objekt 310 bereits gesichert haben."

Ungläubig lauschte ich den Worten meines einstigen Erzeugers. Das Wort, welches er statt meinem Namen verwendete, schmerzte in meiner Brust. Für ihn war ich wohl nur noch eine Nichtigkeit mit einer Nummer geworden.

Immerhin wusste ich jetzt, dass der alte Mann nicht in allem gelogen hatte. Sein Name lautete tatsächlich Wynn. Trotzdem war der ältere Herr nur noch ein weiterer Verräter auf meiner endlos wirkenden Liste geworden. Ich konnte ihm nicht mehr vertrauen. Vermutlich nie wieder.

„Wo ist sie? Deine einzige Aufgabe war es, auf sie aufzupassen", erklang die Stimme meines Vaters erzürnt aus dem Haus. „Sie ist plötzlich aus dem Haus gerannt. Ich habe versucht sie aufzuhalten, aber sie war viel zu schnell. Ich konnte nicht mit ihr mithalten und sie aufhalten", stotterte Wynn daraufhin unsicher los.

Wieso hatte er gelogen? Wynn wusste genauso gut wie ich, dass ich nie im Leben weit gekommen wäre. Also warum forderte der alte Mann meinen Vater nicht auf, in unmittelbarer Umgebung nach mir zu suchen?

„Das darf doch wohl nicht wahr sein. Wie konnte sie entkommen?", schrie mein einstiger Vater außer sich.

Ich konnte mir gut Wynns verängstigenden Gesichtsausdruck vorstellen. Und mir wurde bewusst, dass ich Wynn vorher auf dieselbe Weise angeschrien hatte. Ich war meinem Vater wohl ähnlicher als mir lieb war.

„Und du weißt nicht wo sie hin gelaufen ist?", fragte mein Erzeuger nochmal genervt nach. Wynn schüttelte wahrscheinlich den Kopf, denn mein Vater redete daraufhin wieder weiter: „Komm mit. Wir fahren wieder zur Einrichtung zurück und informieren Anna. Ich kann nur hoffen, dass Agent 78 bessere Arbeit leistet."

Mit diesen Worten verließen die beiden Männer das Haus. Ohne sich umzuschauen stiegen sie in das grau-silberne Auto. Dann waren sie mit quietschenden Reifen davon gefahren. Unentdeckt ließen sie mich zurück.

Tränen schossen in meine Augen. Sie waren so kurz davor mich in die Finger zu bekommen. Wenn mich die Kreatur in mir nicht gerettet hätten, wäre ich wieder in Gefangenschaft. Irgendwo als Versuchsexperiment in einer von meinen Eltern erbauten Einrichtung.

Ich spürte wie mein Körper vor Erschöpfung schwerer wurde. Ich dachte nicht einmal daran, dass mein Vater zurückkommen könnte. Ahnungslos wie es jetzt mit mir weiter gehen sollte, stolperte ich durch die offene Haustür.

Leise schloss ich ab und ließ mich an der Tür vorsichtig hinuntergleiten. Obwohl ich müde war, konnte ich nicht schlafen. Ich hatte schlichtweg zu viele Sorgen.

Wie ging es meiner Oma? Freiwillig war sie bestimmt nicht zu meinen Eltern gegangen. Vielleicht wurde sie entführt. Sie hätte mich nicht allein gelassen. Sie war nicht so wie die anderen.

Oder irrte ich mich? War sie vielleicht doch gar nicht so anders, wie der Rest meiner Bekanntschaft? Früher oder später würde ich es sowieso herausfinden müssen.

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