Kapitel 15

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„Du kannst mich Wynn nennen", stellte sich der alte Mann nach einiger Zeit, in der wir schweigend nebeneinander auf meinem Bett saßen und unseren Gedanken nach hingen, vor.

Noch vor fünf Minuten war er vor meiner Zimmertür gestanden und hatte um Einlass gebeten. Ohne zu zögern hatte ich Wynn eintreten lassen, obwohl er der Letzte gewesen war, denn ich jetzt sehen wollte. Aber zurzeit schien es so, als wäre der ältere Herr der Einzige, der mit mir reden wollte.

„Okay", verließ es erschöpft meine Lippen. Ich wollte Wynn nicht zeigen, wie froh ich über seine Anwesenheit war, aber ich konnte es nicht verhindern.

Das er jetzt neben mir saß und mich scheinbar nicht verletzen oder verurteilen wollte, spendete mir etwas Trost und Kraft. Auch wenn wir nicht viel redeten beruhigte mich die Nähe des fremden Mannes.

Seit langem wurde mir wieder bewusst, wie leicht ich früher jemanden vertraut hatte. Doch dies war lange her und ich musste schnell wieder anfangen mein altes, naives Ich zu vergessen.

„Worüber willst du mit mir reden?", fragte ich Wynn möglichst neutral und selbstsicher. Er runzelte die Stirn und schien sich kurz sammeln zu müssen, ehe er zum Sprechen ansetzte: „Deine Großmutter, Kate, sie ist freiwillig zu deinen Eltern gegangen. Kate wollte dein Verhalten verstehen lernen. Sie wollte dich verstehen, um dir helfen zu können. Und ja, vielleicht war es unüberlegt von ihr gewesen, deine Eltern aufzusuchen, aber wie hättest du an ihrer Stelle agiert?"

Ich schwieg. Wynn hatte recht, ich sollte meine Oma nicht wegen ihrem Handeln verurteilen. Sie hat mich ohne Fragen aufgenommen und ist es leid unwissend dazustehen.

Ich senkte meinen Kopf und Tränen stiegen mir in die Augen. Warum war ich so ein schlechter Mensch und verurteilte gleich jeden? Vielleicht war ich das Problem und nicht die anderen. Was stimmte mit mir nicht? Unterschied ich mich so stark vom Rest der Menschheit?

Der alte Mann legte vorsichtig einen Arm um meine Schultern. Für einen kurzen Moment wollte ich mich an seine Schulter lehnen. Ich kam aber gleich wieder zur Besinnung und befreite mich aus seiner Geste. Zusätzlich rutschte ich ein Stück von ihm weg.

Wynn schaute mich kurz entschuldigend an. Dann stand er auf und verließ mein Zimmer. Der alte Mann ließ mich verwirrt zurück. War das etwa alles worüber er reden wollte?

„Kommst du nach der Schule noch mit Bianca und mir Eis essen?", fragte mich Valerian nach der vierten Schulstunde.

Seit gestern hatten wir kein Wort mehr miteinander gewechselt. Er verbrachte jetzt seine Freizeit mit Bianca und mir wurde klar, dass nun sie meinen Platz eingenommen hatte.

Ich rief mir Valerians Frage wieder in den Sinn und nickte kurz bestätigend. Vielleicht konnte ich ihm so wieder näherkommen. Dennoch störte mich, dass er mit Bianca und mir Eis essen gehen wollte und nicht nur mit mir.

Das klang eifersüchtiger als ich es mir je eingestehen würde, aber tief in mir drinnen wusste ich, dass es genau das war. Ich war eifersüchtig. Eifersüchtig auf die Beziehung zwischen Bianca und Valerian. Doch zugeben würde ich diese Tatsache nie.

Nach der fünften Stunde wurde mir auch bewusst, wie sehr Valerians Freunde unter Biancas Auftauchen litten. Er vernachlässigte nicht nur mich, sondern auch seine Freunde.

Bianca stand jetzt in seinem Mittelpunkt und ich konnte mir keine sinnvolle Erklärung zusammenreimen. Also beschloss ich zu den drei Jungen hinüberzugehen und mit ihnen zu reden.

„Entschuldigung, aber ich habe eine Frage bezüglich Valerian", sagte ich schüchtern und versuchte die Jungs auf mich aufmerksam zu machen, da sie mitten in einem Gespräch waren.

Mühevoll versuchte ich mich an ihre Namen zu erinnern. Der blondhaarige war Florian, dass wusste ich noch und der mit der Brille musste Denis sein. Aber der dritte Name wollte mir beim besten Willen nicht einfallen. Die Drei verstummten sofort und lächelten mich freundlich an.

„Hey Gracie. Natürlich kannst du uns über Valerian ausfragen. Du bist ja jetzt eine von uns", grinste mich Florian schief an. „Und du passt auch gut zu uns, weil du eben nicht dazu passt", scherzte der dessen Name mir nicht einfiel. Worauf er einen verwirrten Blick von mir erntete.

Die Jungen begann gleichzeitig laut los zu lachen. Als sie sich wieder beruhigt hatten fragte Denis: „Also was willst du wissen?" Überfordert mit seiner Frage starrte ich die Drei an. Ich hatte mir noch keine wirkliche Frage zurechtgelegt. Ich wollte nur wissen was hier plötzlich los war.

Also murmelte ich verlegen: „Warum liegt Valerians ganze Aufmerksamkeit auf Bianca? Ihr Auftritt allein kann doch nicht Valerian so stark verändert haben."

Die Jungen warfen sich kurz traurige Blicke zu. Dann antwortete mir Florian: „Valerian und Bianca waren letztes Jahr zusammen gewesen...bevor Bianca spurlos verschwunden ist. Sie hatte Valerian nichts über ihren kurzfristigen Schulabbruch erzählt und Valerian wäre daran fast zerbrochen. Du musst wissen, Valerian ist schon seit der Grundschule in Bianca verliebt und vor einem Jahr hat sich dann zwischen den beiden etwas ergeben. Und da sie offiziell nie Schluss gemacht haben-"

Er beendete seinen Satz nicht mehr, aber das musste er auch gar nicht. Ich wusste ohnehin auf was Denis hinaus wollte. Valerian hing noch an Bianca und vermutlich vermisste er auch die gemeinsame Zeit mit ihr.

Der Junge war wohl nie über seine erste Liebe hinweggekommen. Die Tatsache, dass Valerian immer noch was von Bianca wollte, machte mich unendlich traurig. Wie groß musste seine Liebe zu ihr sein, wenn er Bianca, nach allem was sie ihm angetan hat, zurückwollte?

Doch tief in mir drinnen schrie etwas, dass viel mehr dahinter steckte. Mit Bianca stimmte etwas ganz und gar nicht. „Hat sich Bianca verändert, seit ihr sie das letzte Mal gesehen habt?", fragte ich wie aus dem Nichts in die Runde.

Überrascht sahen mich die Jungs an. Wie abgestimmt nickten sie gleichzeitig. „Ja hat sie. Sie sieht verändert aus. Nicht viel, aber ein wenig anders. Wenn man sie nicht gut kannte, würde man die kleinen Veränderungen nicht bemerken, aber sie existieren. Beispielsweise sind ihre Gesichtszüge irgendwie anders. Steifer", berichtete mir Florian nachdenklich.

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