Kapitel 5

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Ab und zu quietschte ein Messer über den blau-weißen Porzellanteller, um etwas Reis auf die Gabel zu schieben. Sonst war es abgesehen von den leisen Kaugeräuschen und dem im Hintergrund laufenden Geschirrspüler still. Weder meine Oma noch Valerian schienen sehr gesprächig zu sein. Beide schienen in ihre eigenen, ganz persönlichen Gedanken vertieft zu sein.

Ich seufzte und schob den Sessel zurück. Doch keiner von beiden beachtete mich. Enttäuscht über die Reaktionslosigkeit ging ich lautlos in die Küche und stellte meinen Teller in den Abwasch. Mein Vorhaben zum Esstisch zurückzukehren wurde von einem lauten Klingeln vernichtet. Wer war das? Erwarteten wir Besuch?

Leise schlich ich zur Haustür und sperrte vorsichtig auf. Dann machte ich sie einen Spalt breit auf und lugte ängstlich hinaus. Aber niemand war zusehen, also machte ich die Tür ganz auf und schaute mich suchend um. Wieder war keine Menschenseele zu erkennen.

Da fiel mir plötzlich der weiße Umschlag, welcher direkt vor der Eingangstür lag, auf. Stirnrunzelnd nahm ich ihn an mich und kehrte schließlich zum Esstisch zurück. Dort konnte ich endlich den nichts adressierten Brief näher begutachtete.

Auch meine Oma und Valerian schienen nicht uninteressiert an meinem Fund zu sein. „An wen und von wem ist der Brief adressiert?", fragte meine Oma neugierig nach. Im selben Moment entdeckte ich meinen Namen, welcher in geschwungener Schrift, rechts oben in einer der vier Ecken geschrieben stand. Kein Absender.

Ohne weiter nachzudenken, von wem der Brief stammen könnte, riss ich ihn auf. „Lies vor", forderte mich meine Großmutter gespannt auf und ich nickte lediglich als Antwort. Doch bevor ich zum Lesen begann, warf ich einen kurzen, besorgten Blick zu Valerian herüber und dann zurück zu meiner Oma. Aber meine Großmutter zuckte nur gleichgültig mit den Schultern, also begann ich nichts ahnend vorzulesen:

Liebe Gracie,
du hast dich lange genug vor uns versteckt. Komm zu uns zurück, wir warten auf dich. Dieser Brief ist eine Warnung. Wenn du nicht freiwillig zu uns zurückkehrst, werden wir dich holen müssen. Das willst du doch nicht, oder? Du kannst nicht ewig vor uns davonlaufen und das weißt du ganz genau. Also wäre es für alle das Beste, wenn du ohne Protest unsere Bitte folge leisten würdest. Wir werden dich erwarten.

Ich schluckte. Tränen schimmerten in meinen mittlerweile glasigen Augen. Meine Hände zitterten und fühlten sich eiskalt an. Ich fühlte mich wie betäubt. Bewegungslos spürte ich, wie die ersten Tränen meine Augen verließen und über mein Wangen herunter kullerten. Sie hatten mich tatsächlich schon gefunden.

Meine Oma riss sich als erstes aus ihrer Schockstarre. Sie stand auf und umrundete den Tisch, um mich in eine kurze Umarmung zu ziehen. Kraftlos ließ ich dies zu. Dabei flüsterte sie mir ein tröstendes: „Alles wird wieder gut", zu. Demonstrativ schüttelte ich den Kopf und noch mehr Tränen liefen meine glühenden Wangen hinunter.

Ich wusste natürlich, dass dies nicht der Fall sein würde. Sie würden nie aufhören mich zu jagen. Trotzdem versuchte ich mich zusammenzureißen und meine Sorgen fürs erste zu verdrängen.

„Danke, es geht schon wieder," entschloss ich nach wenigen Minuten mit leicht zittriger Stimme. Valerian hatte in der zwischen Zeit keinen Laut von sich gegeben. Es war fast so, als wäre er von Anfang an nicht hier gewesen.

Nickend streichelte mir meine Oma noch kurz über die Schulter und setzte sich zurück auf ihren vorherigen Sitzplatz. Eine unangenehme Stille breitete sich im Raum aus. Es war nichts, außer meiner immer noch unregelmäßigen Atmung zu hören.

„Darf ich fragen, was hier los ist?", durchbrach Valerian verwirrt unser Schweigen. Meine Großmutter nickte und schaute mich fordernd an. „Jetzt wäre ein guter Zeitpunkt, um uns zu erklären, warum es dich vor knapp einem Monat zu mir getrieben hat?"

Leicht verärgert schaute ich sie an. Wer wollte denn, dass ich den Brief laut vorlas? Ich? Nein, ganz bestimmt nicht und jetzt musste ich einem Fremden den unerträglichen Grund für mein spontanes Auftauchen erzählen. Das konnte ich nicht machen. Es tat mir wirklich leid, aber ich konnte Valerian nicht einweihen. Ich war einfach noch nichts so weit.

Trotzdem log ich zur Hälfte das, was meine Großmutter schon wusste: „Ich brauchte eine Auszeit von meinen Eltern, also bin ich weggelaufen." „Und? Das war alles? Ich sehe dir an, dass das nicht die ganze Wahrheit ist. Ich würde einfach gerne wissen, was los ist. Ich möchte dir doch helfen", seufzte meine Oma frustriert auf.

„Ich brauche deine Hilfe aber nicht!", rutschte es mir verärgert heraus. Die Augen meiner Oma verfinsterten sich. „Valerian, ich glaube es wäre jetzt für dich an der Zeit zu gehen. Ich muss ein ernstes Wort mit meiner Enkelin reden. Du weißt ja wo die Tür ist", sagte meine Oma in einem Tonfall, der keine Widerrede zuließ.

Ohne ein weiteres Wort verließ der Junge, mit einem letzten enttäuschten sowie verletzten Blick an mich gerichtet, den Raum. Traurig schaute ich ihm nach. Als die Haustür laut zugeschlagen wurde, riss ich mich aus meiner Starre.

Fassungslos starrte ich meine Oma an. Wie konnte sie es wagen, Valerian so unhöflich aus dem Haus zu werfen? Was wenn meine Verfolger ihn gesehen haben und ihn als Geisel entführen? Wie konnte ich nur so egoistisch und selbstsüchtig sein und sein Leben aufs Spiel setzen?

„Gracie? Was zum Teufel ist zwischen dir und deinen Eltern vorgefallen? Wenn du dich mir nicht bald anvertraust fühle ich mich dazu gezwungen, dir einen Psychologen zu besorgen. Hörst du?"

Ihre Worte brachten das Fass zum Überlaufen. Ich sah rot. Wütend sprang ich vom Sessel und starrte finster auf meine Großmutter hinunter. Tief im Inneren spürte ich, dass sie vielleicht recht hatte. Ich war psychisch labil. Im Endeffekt war ich ein gebrochenes, zerschundenes Wrack.

Meine Wut vermischte sich mit Angst. Angst vor dem Verlust meiner Selbstbeherrschung. Ohne ein weiteres Wort stürmte ich in die Richtung meines Zimmers. Dort angekommen schloss ich schnell ab und kontrollierte die zugezogenen Vorhänge.

Ich schleuderte die verdunkelte Brille achtlos auf den hellbraunen Holzboden. Wie von selbst wanderte mein Blick zum Spiegel, an einer meiner Kleiderschranktüren. Mein Atem stockte. Erschrocken wich ich ein paar Schritte zurück, als mir ein strahlend rotes Augenpaar entgegen blickte.

Von dem ansonsten unnatürlichen türkis, war keine Spur mehr. Prüfend hob ich meine Hand. Das Spiegelbild hatte ebenfalls seine Hand gehoben. Ich erschauderte, das war ich nicht, das konnte nicht ich sein. Meine Hand berührte vorsichtig den Spiegel. „Oh mein Gott, ich bin ein Monster", sah ich die blassrosa Lippen meines leblosen Ebenbilds flüstern.

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