Kapitel 24

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Nach einem ereignislosen Wochenende steuerte ich am darauf folgenden Montag auf meinen Spind zu, als ich Bianca und Valerian ein paar Schließfächer weiter bemerkte. Sie standen dicht beieinander und flüsterten verschwörerisch.

Ab und zu kicherte Bianca verlegen. Im nächsten Moment hatte sie ihre Arme um Valerians Nacken gelegt. Dann küsste sie ihn. Verärgert riss ich meinen Spind auf. Nur damit ich diese innige Szene nicht mit ansehen musste.

Traurig fixierte ich mit leerem Blick die Inneneinrichtung des kleinen Kastens. Mein Herz drohte in meiner Brust zu zerbrechen und plötzlich war ich wütend. Wütend auf Bianca und Valerian. Warum taten sie mir das an?

Ich versuchte mich zu beruhigen. Dann schaute ich erneut zu den beiden hinüber. Sie standen immer noch eng umschlungen dar. Verletzt wanderte mein Blick auf den Schulflur.

Die Schulglocke läutete und ein letztes Mal schaute ich zu meinem ehemaligen Freund. Doch Valerian nahm mich wieder einmal nicht wahr. Frustriert seufzte ich auf, aber wenigstens hatten sie sich wieder voneinander gelöst.

„Geht es dir heute besser?", ertönte plötzlich Alecs Stimme neben mir. Erschrocken fuhr ich zusammen. Woraufhin der Junge mich entschuldigend anblickte.

„Ich denke schon. Was hat euch Emily am Freitag eigentlich noch erzählt?", fragte ich vorsichtig, da es mir die Ereignisse von Freitag erst jetzt wieder in den Sinn kamen.

Alec schien kurz zu überlegen, dann antwortete er mit: „Nicht viel. Emily hat uns nur erzählt, dass deine Großmutter verreist ist und du nicht allein im großen Haus wohnen wolltest."

Ich war ehrlich überrascht über seine Aussage. Emily hatte die Wahrheit ein wenig verdreht. Ich hätte es selbst nicht besser formulieren können. Doch dann seufzte Alec und setzte erneut zum Sprechen an: „Ich glaube ihr aber nicht. Florian hat es zwar geglaubt und Denis zweifelt noch an der Wahrheit, aber ich glaube dir und deiner Freundin nicht. Bei dir passt doch nichts zusammen. Ich bemerke, wenn jemand mich anlügt. Ihr könnt mir nichts vormachen. Weder Emily noch du. Ich will keine weiteren Lügen mehr von dir aufgetischt bekommen. Ich hasse diese ständige Geheimnistuerei. Wenn du mir nicht vertraust und mir nicht sagen willst was los ist, dann sag das doch einfach. Stattdessen denkt sich deine Freundin irgendeine Lüge aus. Das muss aufhören!"

Nachdem er das gesagt hatte, ließ Alec mich einfach stehen und ging. Ich verstand nicht was mit ihm plötzlich los war. Ich wollte ihn aufhalten, aber ich wusste nicht was ich sagen sollte.

Valerian und Bianca waren mittlerweile hinter der nächsten Ecke verschwunden. Wieso ging gerade wieder alles den Bach hinunter? Hätte ich diese verdammte Fähigkeit nicht, dann wäre nie jemand durch meine Hand gestorben und ich könnte möglicherweise ein ganz normales Leben führen.

Aber so könnte und würde es wohl doch nie sein. Ich knallte meinen Spind lauter als geplant zu und erntete dafür einige genervte Blicke. Die Metalltür hatte ein viel zu lautes Geräusch von sich gegeben.

Erst jetzt viel mir der gefaltete Zettel am Boden auf. Er war wohl durch den prompten Windstoß aus meinem Spind gesegelt. Verwirrt hob ich ihn auf und entfaltete das Papier. Ich lass mir den Brief zweimal durch, bis ich begreifen konnte, dass das kein schlechter Scherz war:

Gracie,
wir haben jetzt lange genug auf dich gewartet. Es wird Zeit zu uns zurückzukehren. Zu deinen Eltern. Wir wissen bereits, dass du nicht freiwillig zu uns zurück kommen wirst. Aber das ist nicht so schlimm. Unser Agent leistet guten Dienst. Er liefert uns viele wichtige und hilfreiche Daten über dich. Bald werden wir die Initiative ergreifen und dich holen kommen. Mache dich bereit, denn dieses Mal wird es kein Entkommen geben. Zweimal den gleichen Fehler werden wir nicht machen. Also genieße noch deine Freiheit, bevor es zu spät ist.

Ich musste nicht zweimal überlegen von wem diese Nachricht stammten konnte. Niemand anderes als meine Eltern konnten solche Absichten vertreten. Außerdem war der Brief eindeutig in der Handschrift meines Vaters verfasst worden.

Mittlerweile würde ich seine Schrift unter tausenden von anderen wieder erkennen. Allein der Gedanke an die Rückkehr in die Anstalt, ließ meinen Körper taub werden. Wie von selbst begann ich meinen Geist von meinen Emotionen abzuschotten, sodass ich keinen klaren Gedanken mehr fassen konnte.

Ich fühlte mich wie von meinem eigenen Leib ausgeschlossen und stattdessen in eine dunkle Ecke versetzt. Das Ding, welches seit langem wieder von mir Besitz ergriffen hatte, sehnte sich nach Rache. Ein unstillbares Verlangen nach Mordlust durchflutete meinen fremden Körper.

Meine Sinne waren messerscharf und nur das kleinste Geräusch ließ meine, unter der Brille, glühenden Augen durch den Flur wandern. Ich bäumte mich gegen den Fremdkörper in mir auf. Ich wollte ihn zurück in die hinterste Ecke meines Bewusstseins sperren. Doch der Eindringling war stärker als je zuvor.

„Das bin nicht ich", versuchte ich mir unter Qualen einzutrichtern, da sich der Fremdkörper erbarmungslos wehrte und mir unbeschreibliche Kopfschmerzen verpasste.

Ohne einen weiteren klaren Gedanken fassen zu können versuchte ich meine Beine zu einem ruhigen Ort zu drängen. Vielleicht zur Mädchentoilette oder gleich aus dem Schulgebäude hinaus.

In meinem jetzigen Zustand durfte ich niemanden begegnen. Glücklicherweise waren die Gänge leer. Es wäre nicht das erste Mal, dass der Fremde Besitz von mir ergriff und sich auf Beutesuche begab. Er hatte schon einmal geschafft, einem Menschen seinen letzten Atemzug zu gewähren, wieso sollte das Ding es nicht wieder versuchen.

Ich hatte eine Person getötet, die nicht nur mir viel bedeutet hatte, sondern vielen anderen auch. Ich hatte meine große Schwester ermordet. Mein Vorbild. Grundlos und kaltherzig. Unter der Aufsicht eines bösartigen Eindringlings, welcher nur den Tod möglichst vieler Menschen anstrebte.

Ich lebte zusammen mit einem Mörder unter ein und demselben Dach, welches zu klein für uns beide war. Einer würde gehen müssen. Und dies würde wohl nicht der Fremdkörper sein.

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