Kapitel 19

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Am nächsten Tag stand ich um Punkt 11:00 Uhr vor dem Haus einer sehr alten Freundin. Ich wusste nicht, ob sie sich noch an mich erinnern konnte oder ob sie hier überhaupt noch lebte. Immerhin lag unsere Kindergartenzeit schon lange zurück.

Unsere Wege hatten sich mit dem Beginn der Volksschule getrennt. Da wir uns beide für eine andere Schule entschieden hatten. Ich wusste nicht, warum mir der Weg zu ihrem Zuhause noch in Erinnerung geblieben war. Vielleicht hatte es mein Unterbewusstsein gespeichert und für den richtigen Moment beibehalten.

Auf jeden Fall stand ich jetzt wieder vor der mir nur allzu bekannten blau-gelben Haustüre. Nach 10 Jahren. Ich hatte Emily schon von klein auf wegen dem wunderschönen Grundstück beneidet. Ich erinnerte mich wage an den Garten.

Er thronte direkt hinter dem geräumigen Haus. Die Grünfläche war bepflanzt mit den schönsten Blumen, die man sich vorstellen konnte. Der Garten besaß ebenfalls eine stolze Anzahl an Apfel-, Zwetschgen- und Kirschenbäumen. Die Himbeer-, Ribisel- und Brombeersträucher sahen im Frühling umwerfend, mit ihren Bienen anlockenden Blüten, aus.

Am Gartenende stand eine hölzerne Hollywoodschaukel. Ein paar Meter davor war ein dunkler Holztisch mit vier dazu passenden Sesseln. Auf der gegenüberliegenden Seite stand ein riesiges Trampolin. Es war von Sträuchern gut geschützt.

In der Nacht sah der Platz mit den ausgestatteten Lichterketten magisch aus. Verträumt erinnerte ich mich an die unzähligen Frühlings- und Sommertage, welche ich an diesem Ort, mit dieser Familie, verbringen durfte. Ich würde lügen, wenn ich abstreiten würde, dass das mit Abstand die beste Zeit meines Lebens gewesen war.

Ich atmete zur Beruhigung tief ein und aus. Als ich die Klingel betätigte hoffte ich inständig, dass Emily immer noch mit ihren Eltern hier wohnte und dass sie sich an mich erinnern konnte.

Ein braunhaariges Mädchen öffnete mit leuchtenden Augen die Tür. Ihre haselnussbraunen Augen musterten mich aufmerksam. Die Augen des Mädchens wurden immer größer.

„Nein, das kann nicht sein. Gracie? Bist du das wirklich?", hauchte Emily atemlos. „Ja, schön die wiederzusehen, Emily", entgegnete ich beruhigt nicht in Vergessenheit geraten zu sein.

Ich war so froh meine alte Freundin wiederzusehen. Es war unglaublich viel Zeit vergangen. Doch Emily war nur gewachsen und ihre Gesichtszüge wirkten Erwachsener. Ansonsten glich sie dem kleinen Mädchen aus meiner Erinnerung überein.

Emily öffnete lächelnd die Haustür. Im nächsten Moment fand ich mich in ihrer stürmischen Umarmung wieder. Als wir uns wieder von einander lösten fragte sie besorgt: „Was ist passiert? Du siehst so verdammt anders aus, ich hätte dich fast nicht mehr wiedererkannt. Aber komm erstmal mit ins Haus hinein."

Emily führte mich ins Gebäudeinnere. Bis auf ein paar Einzelheiten, sah alles unverändert aus. Ihre Mutter kam gerade aus der Küche als sie mich sah. Sie trug eine Vase, die Emilys Mutter fast ausgekommen wäre.

„Gracie? Das kann doch nicht wahr sein. Geht es dir gut? Du siehst so blass aus und seit wann trägst du diese abgedunkelte Brille? Was haben sie nur mit der gemacht? Komm her", drückte Isabelle sogleich ihre Besorgnis aus und zog mich in eine kurze Umarmung.

Diese Frau war so gut wie die einzige die von Anfang an wusste, was in meiner Familie passierte. Ab einem gewissen Punkt hatte Isabelle begonnen, meinen Eltern in ihre Kindererziehung hineinzureden. Sie meinte, ich müsste nicht isoliert und versteckt werden.

Von diesem Zeitpunkt weg, hatten meine Eltern begonnen, mich von der ganzen Familie zu isolieren. Ich verlor meine beste Freundin und die einzigen Menschen, die mich verstanden und meine Sorgen kannten und verstanden.

„Ich brauche für einige Zeit eine Unterkunft. Natürlich nur, wenn das für euch in Ordnung ist. Meine Eltern haben meine Großmutter entführt und zwei Agenten für meine Beobachtung eingesetzt. Mein Vater war gestern bei dem Haus meiner Oma. Ich konnte mich noch rechtzeitig in einem nah gelegenen Gebüsch verstecken. Zurückgehen kann ich trotzdem nicht. Was wenn sie wiederkommen?", glitten die Worte sogleich aus mir hinaus.

Ich wirkte sicher völlig aufgebracht und durcheinander, aber genau das beschrieb meine Stimmung. Ich war verzweifelt und wusste nichts mit mir anzufangen.

„Es ist kein Problem für uns dich einige Zeit bei uns aufzunehmen. Du gehörst doch fast schon zur Familie. Ich richte dir das Gästezimmer her. Setz dich hin und beruhige dich. Und Emily, Schatz? Könntest du Gracie bitte ein Glas Wasser holen gehen?", befahl sie uns beiden und Emily nickte.

Sie wusste wie ernst die Lage war. Auch damals hatte Emily mit ihren jungen Jahren verstanden, in welcher Situation ich mich befand. Ich war gefangen in den Krallen meiner Eltern und freiwillig hätten sie mich niemals hergegeben.

Meine einzige Möglichkeit war die Flucht ins Ungewisse. Der Ausbruch aus meinem ganz persönlichen Gedankengefängnis. Irgendwann verwandelte es sich in eine echte Zelle. Einem Zimmer in einer von meinen Eltern selbst errichteten Anstalt für Kinder wie mich. In dem auch ich nach einem Vorfall, den ich bis heute verdrängte, endete.

Stumm saßen Emily und ich auf dem gemütlichen cremefarbenen Sofa. Das Glas mit Wasser stand vor mir auf einem kleinen Glastisch. Keiner von uns traute sich vor Isabelles Rückkehr das Geschehene anzusprechen. Also fingen wir einen klassischen Smalltalk an, der nach ein paar Minuten abebbte und in einem wartenden schweigen endete.

Kurze Zeit später stand Emilys Mutter wieder mit einem aufgesetzten Lächeln im Wohnzimmer und setzte sich, auf einen zum Sofa passenden Sessel. Sie saß mir direkt gegenüber. Uns trennte nur der Glastisch, welcher in der Mitte ruhte.

„Das Gästezimmer ist gerichtet. Ruhe dich erstmal aus. Dann kannst du mir ja erzählen, was genau passiert ist seitdem wir uns das letzte Mal gesehen haben. Aber ich möchte dich zu nichts drängen. Nimm dir die Zeit, die du brauchst. Du weißt wo du mich finden kannst", bot mir Isabelle freundlich an.

Ich nickte dankbar für ihr Verständnis. Plötzlich sehnte ich mich nach frischer Luft und dem Garten mit welchem ich unglaubliche Kindheitserinnerungen verband. Ich hoffte, dass er noch so aussah wie früher.

„Darf ich den Garten sehen?", fragte ich schüchtern. „Natürlich", beantwortete Isabelle meine Frage und die beiden begleiteten mich zu einer Glastür in der Küche, die neben dem Wohnzimmer lag.

Isabelle öffnete sie für mich und ließ mich heraus auf die anschließende Terrasse steigen. Emily und ihre Mutter folgten mir.

„Ist er so, wie du ihn in Erinnerung hast?", fragte Emily so als würde sie meine Absichten gekannt haben. Ich schüttelte ein wenig bedrückt den Kopf.

Alles sah verändert aus. Das Trampolin, die Hollywoodschaukel und die blühenden Blumen fehlten. Alles schien so leer und verlassen. Wahrscheinlich lag dies an der derzeitigen, kühlen Jahreszeit. Obwohl es schon Ende Winter war, gab es ab und zu noch ein paar kalte Tage.

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