Kapitel 9

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Ungewöhnlich früh wachte ich am nächsten Morgen auf. Mein Wecker hatte noch nicht Alarm geschlagen und die Sonne versteckte sich noch hinter den Hügeln.

Ein Blick auf die Uhr verriet mir, dass es gerade mal 5 Uhr morgens war. Schlafen wollte ich nicht mehr, als beschloss ich aufzustehen und eine heiße Dusche zu nehmen. Mühevoll versuchte ich mich daran zu erinnern, was gestern passiert war.

Überrascht musste ich feststellen, dass ich in meinem Bett und nicht beim Kleiderschrank aufgewacht war. Was aus Valerian geworden war, wusste ich ebenfalls nicht.

Aber anscheinend hatte er mich nicht mehr aufgeweckt. Nachdenklich machte ich mich für die Schule fertig und beschloss erstmal Frühstück für meine Oma vorzubereiten, um sie dann anschließend wegen gestern auszufragen. Vielleicht wusste sie mehr als ich.

„Guten Morgen, ich hoffe du hast Hunger", begrüßte ich meine Großmutter, welche mir ein müdes, verwirrtes Lächeln schenkte.

Seit dem Brief verliefen unsere Gespräche auf sachlicher Ebene. Ich bedauerte sehr, dass meine Oma sich immer mehr in sich zurückzog, doch tat ich nicht genau das Gleiche?

Ich musste eine große Belastung für sie sein und dagegen musste ich irgendetwas unternehmen. Doch das musste vorerst warten.

„Hast du gestern noch Valerian gesehen?", fragte ich sie nachdenklich. Nickend legte sie ihr Frühstücksbrot zur Seite und klärte mich auf: „Als ich gestern am frühen Abend nach Hause kam, war er noch da und erzählte mir über die Vorkommnisse in der Schule und darüber, dass du schon schliefst. Gracie, wir müssen über das Geschehene reden."

Zur Antwort nickte ich nur und versprach meiner Großmutter bald alles zu erzählen. Aber jetzt war es auch schon Zeit für mich zur Bushaltestelle zu gehen und gerade hatte ich keine Nerven für das Gespräch.

Ich verabschiedete mich von meiner Großmutter und eilte zum Bus, da es schon wieder spät geworden war. Gerade noch erwischte ich das Verkehrsmittel und ließ mich erleichtert auf einem freien Platz nieder.

Eine undefinierbare Angst kroch wieder in mir auf und ich versuchte mich möglichst unauffällig und ruhig umzusehen. Ich erstarrte, als ich den alten Mann aus der Bibliothek erkannte.

Er saß nicht weit von mir entfernt. Der Mann hielt eine Zeitung in seinen vom Alter gezeichneten Händen, aber ich war fest davon überzeugt, dass der Unbekannte mich beobachtete.

Ohne über die Folgen meines Handelns nachzudenken, sprang ich bei der nächstgelegenen Bushaltestelle aus dem Fahrzeug. Der Bus fuhr quietschend davon und mit ihm der alte Mann.

Erleichtert atmete ich aus bis ich realisierte, dass das gerade mein Schulbus war, der geräuschvoll davon gefahren war. Warum musste ich auch so dumm sein? Hätte ich nicht noch fünf Stationen warten können?

Außer Atem kam ich geschlagene zwanzig Minuten zu spät bei der Schule an. Ich hastete in die richtige Klasse, klopfte brav und wurde von einem finsteren Blick meines Biologielehrers gestraft.

Er deutete wortlos mich zu setzten und ich tat wie mir befohlen. Leise und schuldbewusst setzte ich mich auf den leeren Platz neben Valerian.

„Wo warst du? Ich dachte schon, dir wäre etwas passiert!", machte sich mein Sitznachbar sogleich Sorgen. „Ich bin zu früh aus dem Bus gesprungen," gab ich kleinlaut bei.

Amüsiert musterte er mich und ich funkelte ihn daraufhin böse an. „Ich schwöre, dass ich im Bus den alten Mann aus der Bibliothek gesehen habe", verteidigte ich mich einige Minuten später.

Im Nachhinein war ich wirklich ein bisschen voreilig gewesen. Vielleicht war der Alte auch nur zufällig dort gewesen. Wieso dachte ich eigentlich, dass er mich verfolgte?

„Und deshalb flüchtest du gleich Hals über Kopf aus dem Bus?", versuchte Valerian meine Handlung verwirrt zu verstehen. Ich nickte nur. „Gut, vielleicht hast du recht. Angenommen der Mann spioniert dir nach, was willst du dagegen machen?", fügte Valerian nach kurzem Zögern hinzu.

„Ich weiß es nicht", flüsterte ich planlos, aber auch überrascht darüber, dass mein Sitznachbar versuchte mir zu glauben. „Uns wird schon etwas einfallen", versicherte mir Valerian ernst, sodass ich nicht anders konnte, als ihm zu glauben.

Nach ein paar Minuten fragte mich Valerian schüchtern und voller Verzweiflung: „Meine Mutter hat in ein paar Tagen Geburtstag und ich habe noch immer kein gutes Geschenk für sie gefunden. Mein Bruder und ich ringen uns jedes Jahr darum, wer unserer Mutter das bessere Geschenk macht. Der Verlierer muss dann für das restliche Jahr die Wäsche des anderen waschen. Ich weiß, es hört sich kindisch an, aber das ist so eine Sache zwischen mir und meinem Bruder. Lange Rede kurzer Sinn, kannst du mir bitte helfen ein Geschenk für sie zu suchen? Ich will nicht schon wieder, das fünfte Jahr hintereinander, verlieren."

Seine Stimme hörte sich dabei etwas brüchig an. Verdutzt starrte ich ihn regelrecht an. Damit hätte ich wohl als Letztes gerechnet. Ich sollte ihm wohl bald antworteten, denn meine Sprachlosigkeit schien Valerian zu verunsichern.

Doch bevor ich etwas sagen konnte ergänzte er: „Ich weiß was du von öffentlichen Plätzen hältst, aber bitte, es ist mir wirklich sehr wichtig. Ich werde auch gut auf dich aufpassen."

Meine Augen weiteten sich. Deutete er etwa an mich beschützen zu wollen? Sprachlos starrte ich ihn weiter an. Erst das Läuten der Glocke holte mich zurück in die Realität und mir wurde bewusst, dass ich immer noch kein Wort von mir gegeben hatte.

„Ja, kein Problem", erwiderte ich endlich verlegen. „Danke, dass bedeutet mir wirklich viel. Dann fahren wir nach der Schule gleich in die Stadt und suchen die große Einkaufsstraße auf", berichtete mir Valerian mit einem sanften Lächeln, ehe er aufstand und aus der Klasse stürmte. Verwirrt sah ich ihm nach.

Ich weiß nicht aus welchem Grund ich wieder an meinen Aufenthalt in der Bibliothek und somit auch an die erste Begegnung mit dem älteren Herrn denken musste. Ich erinnerte mich daran, dass ich bevor Valerian kam, eine halbe Ewigkeit allein, zusammengekauert auf einem der Sofas kauerte.

Und abrupt brannte sich eine Frage in mein Gedächtnis, warum war er um so viel zu spät gekommen? Was hatte der Junge über eine Stunde getrieben, sodass er nicht rechtzeitig zu unserer Verabredung kommen konnte?

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