Bruder

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"Wir können dir beweisen, dass Shiro noch lebt!", rief Neko aufgeregt und legte eine rote Murmel auf den Tisch. "Sieh doch!"
Ich beugte mich ein Stück nach vorne und schaute mir die Kugel genauer an. Ganz leicht waren die Umrisse von Wolken zu sehen. "Ist das eine von Annas Murmeln?"
Kuroh nickte und nahm einen Schluck von seinem Kaffee. "Sie hat sie uns gegeben, bevor wir die Stadt verlassen haben, und soll Shiros Aufenthaltsort zeigen."
Ich legte überlegend meinen Zeigefinger unters Kinn. "Vielleicht sein Luftschiff?"
"So weit waren wir auch schon. Aber sein Luftschiff ist ja vor sechs Monaten abgestürzt, wie du sicher weißt.", erinnerte Kuroh mich und nahm noch einen Schluck, während sein Blick durch die Menschenmenge schweifte. "Und genau das wirft uns Rätsel auf."
"Was ist, wenn man es repariert hat?", schlug ich vor und senkte meinen Kopf. War das überhaupt möglich? Sofort kamen mir die Bilder von damals in den Kopf, die ich im Nachhinein im Fernsehen erblickt hatte. Das riesengroße Schiff, das viele Jahrzehnte lag durch die Luft geflogen und schließlich mitten in der Nacht am Himmel explodiert war. Nein, das hatte man nicht mehr reparieren können, selbst mit meinen Kräften nicht.
Kuroh blickte mich nur stillschweigend an und hob schließlich nach einiger Zeit seine Augenbraue, woraufhin ich nickte. "Jaja, ich hab's ja kapiert.", meinte ich augenrollend, nachdem auch ich gemerkt hatte, dass diese Theorie unmöglich wahr sein konnte. "Dann hat man es eben nachgebaut. Ich habe gehört, Shiro war gut mit dem goldenen König befreundet. Der hätte doch genug Geld für so einen Nachbau. Wieso fragt ihr ihn nicht mal?"
Mein Gegenüber sah mich immer noch mit demselben Blick an. "Wir sind nicht blöd, also zumindest ich nicht. Wenn wir mit Daikokou Kokujoji hätten reden können, hätten wir das schon längst gemacht."
"Was hindert euch daran?", fragte ich, wobei meine Neugier deutlich herauszuhören war.
"Keiner weiß, wo er ist."
"Schon mal im Mihashira Tower nachgesehen?"
Wieder rollte Kuroh mit den Augen und ich konnte mir ein Lächeln nicht verkneifen. "Wir sind nicht blöd.", wiederholte er mit säuerlicher Stimme und schaute wieder zu mir. Wie sehr es doch Spaß machte, den schwarzen Hund zu ärgern.
"Der verlässt das Gebäude doch sonst nie."
"Hat er aber. Keiner weiß, wo er ist." Er zuckte seufzend mit meinen Schultern. "Wir kommen einfach nicht weiter. Und du hast offensichtlich auch keine andere Idee. Außerdem:" Kuroh deutete auf Kanata. "Warum ist er eigentlich hier? Du weißt genau, dass die Clans möglichst geheim bleiben sollen."
"Er ist bereits eingeweiht.", antwortete ich kurz und warf meinem Mitschüler, der zu knurren begonnen hatte, einen bösen Blick zu, den er jedoch ignorierte. "Sein Bruder war Teil eines Clans, allerdings weiß er selber nicht viel." Dieses Mal knurrte Kanata mich an und steckte seine Hände in die Hosentaschen. "Ist doch so.", knurrte ich leise zurück, bevor ich mich zurück an meine Freunde wandte. "Zu dem ist er dazu bestimmt, ein Mitglied des roten Clans zu werden."
"Pah! Als ob!" Zum ersten Mal, seit wir hier angekommen waren, hatte er echte Worte von sich gegeben. "Das bildest du dir nur ein. Ich und dieser verweichlichte Haufen, ja klar."
Keine fünf Sekunden später war alles still. Sogar Neko, die bis eben noch irgendein Lied vor sich her gesummt hatte, war nun komplett still und starrte mich an. Bei Kuroh dagegen blitzte eine Spur Respekt in seinen Augen auf. Nur ganz langsam wagte es Kanata seine Hand auf die inzwischen rote Stelle auf seiner Backe zu legen, an der ich ihn mit ganzer Kraft getroffen hatte. "Sag sowas nie wieder." Mein Kopf war gesenkt und ein paar Stränen fielen mir ins Gesicht. Meine Stimme klang eiskalt. "Wag es nie wieder, Homra zu beleidigen, denn wenn jemand meine Familie beleidigt, kenne ich keinen Spaß mehr.", murmelte ich. "Ob du willst oder nicht, du gehörst zu Homra. Das ist deine Bestimmung, daran kannst du nichts ändern."
Eine ganze Weile lang war es komplett ruhig, niemand wagte es, etwas zu sagen oder nur einen Mucks zu machen. Es verging eine halbe Ewigkeit, bis Kanata letztendlich schweigend aufstand und ohne ein weiteres Wort zu sagen in der Menschenmenge verschwand.
Schnell stand ich auf und legte einen Geldschein auf den Tisch. "Tut mir leid, ich muss los." Ich wartete gar nicht mehr auf eine Antwort, sondern rannte einfach Kanata hinterher, den ich kurz darauf bereits eingeholt hatte. Sofort hielt ich ihn am Arm fest und er stoppte. "Warum bist du jetzt einfach abgehauen?"
"Lass mich in Ruhe." Er ging einfach weiter, obwohl ich ihn mit aller Kraft versuchte an Ort und Stelle zu halten, sodass er mich einfach mit zog.
"Wo willst du hin?"
"Geht dich nichts an und lass mich endlich los!"
Doch genau das tat ich nicht und aus irgendeinem Grund wehrte er sich überhaupt nicht dagegen, als wollte er im Gegensatz zu seinen Worten, dass ich ihn begleitete. Sein Gesichtsausdruck war wie immer völlig gleichgültig und trotzdem kam er mir komplett anders vor. "Familie...", hörte ich ihn leise sagen und plötzlich blieb er mit gesenktem Kopf mitten in der Menschenmenge stehen. Keine zwei Meter neben uns verlief eine Straße, die Kanata ununterbrochen anstarrte. "Familie... was ist das eigentlich? Wenn man sich gegenseitig umeinander kümmert, oder was? Dass ich nicht lache...!"
"Eine echte Familie tut das."
"Meine Eltern nicht. Die haben mich schließlich nie gemocht. Immer ging es nur um meinen perfekten kleinen Bruder und trotzdem hab ich es ihm nie böse genommen."
"Aber sie lieben dich doch genauso. Ich hab es dich selbst gesehen."
"Du weißt doch gar nichts! Für sie war immer nur mein kleiner Bruder wichtig, mit seinen guten Noten, seinem höflichen Verhalten und dem ganzen anderen Scheiß!"
"Als ich bei dir zu Hause war, sah das aber ganz anders aus. Deine Eltern machen sich bestimmt große Sorgen um dich und..." Weiter kam ich nicht, denn ich wurde von Kanata unterbrochen.
"Das ist nur so, weil die alle denken, dass ich mein Bruder bin!"

Ja, ich lebe auch noch und habe es endlich mal wieder geschafft, ein Kapitel fertig zu schreiben.

Habt ihr schon Ideen, was Kanata damit meinen könnte?

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