Der Neue

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Irgendwie fühlte es sich komisch an zu wissen, dass Mikoto nicht mehr der König unseres Clans war. Vor allem fragte ich mich, wie unser neuer König wohl sein würde. Vielleicht war es aber auch eine Königin. Wie funktionierte so eine Königswahl überhaupt? Wurde einfach irgendein Mitglied des Clans ausgewählt? Oder jemand, der überhaupt nichts von den Clans wusste? Oder war es egal? Unzählige Fragen schossen mir durch den Kopf und normalerweise hätte ich ich sie Izumo gestellt, dem allwissenden Strategen von Homra. Aber leider war er im Moment nicht anwesend. Und die anderen konnte ich ja nicht fragen, weil sonst niemand etwas über die Sache wusste.
"Über was grübelst du denn nach?" Mai riss mich aus meinen Gedanken. Sie stand neben meinem Tisch im Klassenzimmer, den Kopf fragend zur Seite geneigt.
"Über die Arbeit.", log ich, auch wenn es in gewisser Weise tatsächlich damit zu tun hatte.
"Und was ist da so los?"
Wie sollte ich das jetzt am besten erklären? "Naja, also... ähm... mein Chef ist gerade verreist und während ich in der Schule bin, passt ein Freund von ihm auf die Bar auf. Und als ich gestern dort hin kam, musste ich leider feststellen, dass die Bar während meiner Abwesenheit überfallen worden ist."
Mai stemmte ihre Arme in die Hüfte. "Ich habe dir gleich gesagt, dass es dort gefährlich ist."
Okay, das hätte ich besser nicht erzählen sollen. "Keine Angst, mir passiert schon nichts."
"Trotzdem..." Mai verschränkte ihre Arme. "Wenn dich eine ganze Gruppe angreift, hast du keine Chance."
Ich wollte gerade darauf antworten, als unser Lehrer den Klassenraum betrat. Allerdings war er nicht alleine: Ihm folgte ein Junge. Sofort fielen mir seine silbernen Haare auf, die mich an die von Shiro erinnerten. Seine kalten, gelben Augen warfen mir einen kurzen Blick zu, wandten sich dann aber wieder dem Lehrer zu. Im Gesicht hatte der Junge einige Schrammen und an seiner linken Backe klebte ein kleines Pflaster. Außerdem trug er ein Piercing am linken Ohr und einen schwarzen Handschuh an der rechten Hand.
Alles in allem wirkte er trotz der harmlosen Schuluniform wie ein Rowdy. Warum erinnerte er mich ein wenig an die Mitglieder von Homra?
"Wir reden später weiter.", flüsterte Mai mir noch schnell weiter, bevor sie an ihren Platz ging.
"Wie ihr schon bemerkt habt, geht ab heute ein neuer Schüler in eure Klasse: Kanata Kazemi."
Unser Lehrer deutete auf den freien Platz ganz hinten links in der Ecke und der Junge setzte sich in Bewegung. Mir kam es wie in Zeitlupe vor, als er an mir vorbeischritt. Unsere Blicke trafen sich erneut und für einen winzigen Moment glaubte ich eine Flamme in seinen Augen gesehen zu haben. Ich schaute ihm nach, bis er sich auf seinen Platz setzte und die Arme verschränkte.
Wie erstarrt saß ich da. Hatte ich mir die Flamme in seinen Augen etwa nur eingebildet oder war sie wirklich da gewesen? Und wenn ja, was hatte das zu bedeuten? Ich drehte mich zurück nach vorne und versuchte mich auf den beginnenden Unterricht zu konzentrieren, aber das klappte überhaupt nicht. Noch nie zuvor hatte ich eine Flamme in irgendwelchen Augem gesehen, außer...
Damals, kurz bevor sich meine Augen rot gefärbt hatten, hatte ich in ihnen auch Feuer gesehen. Was hatte das nur zu bedeuten? Egal, was es war, ich würde es herausfinden.
Den Entschluss, den ich gefasst hatte, setzte ich gleich in der Mittagspause um: Mai hatte mich gerade gefragt, ob wir nicht zusammen auf dem Schuldach zu Mittag essen wollten.
"Klar.", antwortete ich flüsternd. "Aber ich würde den neuen gerne mitnehmen."
Mai blickte kurz hinter zu ihm und dann wieder zu mir. "Bist du dir sicher? Der sieht wie ein Krimineller aus."
"Vielleicht ist er ja ganz nett.", versuchte ich sie zu überzeugen.
Mai begann zu lächeln. "Und lass mich raten: Ich brauche keine Angst zu haben, weil du ja jeden Verbrecher fertig machst."
"Stimmt genau." Natürlich wirkte es auf Mai, als würde ich nur einen Scherz machen, wenn ich sagte, dass ich es mit einer ganzen Verbrecherbande aufnehmen könnte. Schließlich wussten normale Menschen wie sie nichts von uns und das war auch gut so. Es war nicht vorzustellen, wie die Menschen reagierten, wenn sie erfuhren, dass unsere Kräfte real waren.
"Na gut."
Also lief ich zusammen mit Mai zu Kanata und setzte ein freundliches Lächeln auf. "Hättest du Lust mit uns auf dem Dach zu Mittag zu essen?"
"Wieso sollte ich?", antwortete er ohne uns eines Blickes zu würdigen. Stattdessen blieb er mit immer noch verschränkten Armen in seinem Stuhl sitzen.
Ich stemmmte meine Arme in die Hüfte. "Weil es gut wäre, die Leute aus deiner neuen Klasse kennenzulernen. Außerdem habe ich ganz freundlich gefragt."
"Wieso sollte ich das wollen?"
"Wieso nicht?"
Endlich hob er seinen Blick und schaute mir in die Augen. Eine Weile lang starrten wir uns nur an, als handle es sich dabei um einen Wettbewerb, wer am längsten nicht blinzelte. Irgendwann öffnete er seinen Mund und antwortete mir endlich: "Soll ich dir mal was sagen?"
"Was denn?"
"Ich bin von meiner letzten Schule, weil ich jemanden krankenhausreif geschlagen habe."
Ich blinzelte ein paar mal vor Überraschung und legte dann meinen Kopf schief. Eigentlich hatte ich erwartet, dass jetzt irgendwas Schlimmes kam, aber jemanden krankenhausreif schlagen? Das hatte wahrscheinlich mal abgesehen von Anna und mir schon jedes Mitglied von Homra getan. "Ja, und?", fragte ich deshalb und im selben Moment fiel mir auf, dass das ja für gewöhnliche Menschen nicht normal war.
Und meine Antwort hatte ihn anscheinend so aus der Fassung gebracht, dass er nicht mehr wusste, was er sagen sollte.
"Hey, Amy...", flüsterte Mai mir ins Ohr. "Bist du dir sicher, dass er mit soll?"
Ich nickte. "Jeder hat schließlich mal einen schlechten Tag." Anschließend wandte ich mich zurück an Kanata. "Also?"
Der Neue seufzte einmal laut. "Wenn es denn unbedingt sein muss..."
"Ja, muss es."
Wir setzten uns im Kreis auf das Dach der Schule und aßen unser Mittagessen. Beziehungsweise taten das Mai und ich, denn Kanata hatte nichts dabei. "Möchtest du etwas von mir abhaben?", fragte ich deshalb freundlich.
Er schaute demonstrativ weg. "Hab keinen Hunger."
Eine Weile lang herrschte peinliche Stille, die ich schließlich irgendwann unterbrach, weil ich es nicht mehr aushielt. "Erzähl uns mal was über dich, Kanata."
"Was sollte es da zu erzählen geben?"
"Zum Beispiel: Gibt es etwas, was du sehr gerne machst?"
"Nein."
"Hast du Hobbies?"
"Nein."
"Was sind deine Lieblingsschlulfächer?"
"Ich hasse Schule."
"Lieblingstier?"
"Hab keins."
"Lieblingsserie."
"Ich schaue kein Fernsehen."
Er war ein wirklich harter Brocken, das musste man zugeben, abee ich gab noch nicht auf. "Hast du wenigstens eine Lieblingsfarbe?" Eigentlich hätte ich jetzt ein "Nein." auf diese Frage erwartet, doch dieses Mal war es anders.
"Rot."
"Rot?"
"Ja."
Nun wurde ich immer neugieriger. "Warum gerade diese Farbe?"
"Weil sie dem Feuer ähnelt."
"Dann magst du also Feuer?"
Er nickte und schaute in die Ferne. "Es fasziniert mich. Einerseits ist es warm und schenkt Licht, aber andererseits ist es auch zerstörerisch."
"Das stimmt. Feuer ist etwas sehr schönes.", gab ich ihm Recht. Ich genoss es auch immer sehr von Homras Flammen umgeben zu sein. "Meine Lieblingsfarbe ist übrigens auch rot. Nur bei mir ist es wegen meiner Augenfarbe."
"Seit wann hast du rote Augen?" Mai blickte mich überrascht an und schaute sich dann meine Augen genauer an. "Tatsächlich."
"Die sind natürlich schon seit meiner Geburt so.", log ich. "Ist dir das denn noch nie aufgefallen?"
Sie schüttelte ihren Kopf. "Dabei ist diese Farbe doch so selten." Auf einmal spramg sie auf. "Da fällt mir ein! Mein Sportclub hat diese Mittagspause ein Treffen." Schnell packte sie ihr Essen ein und sprintete mit den Worten "Bis später." davon.
"Warum hast du gelogen?"
Ich blinzelte überrascht. "Was meinst du?"
Kanata verengte seine Augen. "Ich erkenne es sofort, wenn Leute lügen. Und du hast nicht die Wahrheit gesagt, als du meintest, deine Augenfarbe wäre schon immer rot gewesen."
"Es stimmt.", gab ich zu und mein Bauchgefühl sagte mir, dass ich ihm vertrauen konnte. "Sie sind erst vor circa einem dreiviertel Jahr so geworden."
"Wie das?"
"Durch Feuer.", antwortete ich und erinnerte mich an jenen Tag zurück, an dem ich es zum ersten Mal geschafft hatte, mich meinem Vater zu widersetzen. "Weißt du: Ich glaube, wir sind uns gar nicht mal so unähnlich."

Hallöchen!

Endlich ist mal wieder ein Kapitel fertig. Das hat echt lange gedauert, aber da jetzt Ferien sind, finde ich bestimmt mehr Zeit zum Schreiben.

In diesem Sinne: Frohe Weihnachten, Schöne Ferien und einen guten Rutsch ins neue Jahr!

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