Diebstahl

2.8K 92 1
                                    

Ich zog meine Jacke an. Danach schlich ich die Treppen nach unten, so leise, dass mich keiner hörte. Glücklicherweise schliefen meine Eltern noch. Wie froh ich darüber war. Ich hatte nämlich so früh am Morgen keine Lust auf die beiden. Vorsichtig schloss ich die Haustür hinter mir. Erleichterung machte sich in mir breit. Ich hatte es geschafft, ungesehen aus dem Haus zu kommen. Ein kurzes Lächeln huschte über mein Gesicht, was aber nicht lange anhielt. Heute würde wieder ein beschissener Tag werden. Spätestens am Abend, wenn ich wieder Ärger dafür bekam, dass ich ohne Bescheid zu sagen abgehauen war. Doch auch das würde ich durchstehen. Irgendwie würde ich es überleben. Das habe ich immer schon getan.
Nur was sollte ich nun den ganzen Tag machen? Ich beschloss in die Stadt zu gehen. Ein wenig Bewegung hatte mir bereits öfters gut getan. Ich zog mir die Kapuze meiner Jacke über den Kopf. Niemand sollte sehen, wie ich aussah. Oder besser gesagt: Niemand sollte sehen, was mein Vater mir angetan hatte. Ich hatte nämlich ein blaues Auge. Er hatte mich gestern ins Gesicht geschlagen. Das tat er öfters. Zu meinem Glück verheilten die Wunden schnell. Ich hatte seit meiner Kindheit auch ein sehr gutes Immunsystem. In der Grundschule war es besonders verblüffend gewesen: Andere lagen wegen einer Grippe eine Woche flach und ich gerade einmal drei Tage, wobei ich am dritten Tag aber schon wieder in die Schule gegangen war.
Für heute nahm ich mir vor, ein wenig Geld zu verdienen. Meine Eltern verlangten sowieso, dass ich arbeitete, doch ich wollte nicht. Genauso wie in der Schule musste man da eine einheitliche Kleidung anziehen. So was hasste ich einfach nur. In die Schule ging ich bereits seit einem Jahr nicht mehr. Zwar war ich noch angemeldet, das interessierte mich jedoch nicht. Ich hatte keine Lust auf irgendwelche Fragen, wegen meinen vielen blauen Flecken oder den Wunden, die ich am ganzen Körper hatte. Außerdem war ich viel lieber alleine unterwegs.
Ich blickte mich um. Meine heutige Arbeit war wieder einmal das Stehlen. Anders kam man hier nicht an Geld. Vor allem nicht ich. Die Tatsache, dass ich es nicht mochte, mit fremden Menschen zu reden, machte es mir nicht leichter.
Im nächsten Moment fiel mir mein erstes Opfer auf: Ein rothaariger junger Mann, der ein weißes T-shirt, einer schwarzen Hose und einer Jacke in derselben Farbe. Ich schätzte ihn auf circa 24 Jahre. Also ein ganzes Stück älter als ich. Ich war nämlich 16. Er holte seinen Geldbeutel heraus und bezahlte mit einem großen Geldschein seine Cola, weswegen er viel Wechselgeld bekam. Ein gefundenes Opfer für mich. Aber ich musste auf Nummer sicher gehen. Also beobachtete ich ihn eine Weile. Er schlenderte durch die Stadt. Ich überlegte mir gründlich, ob ich es versuchen sollte. Er war ziemlich muskulös. Im Nahkampf hätte ich folglich keine Chance gegen ihn. Doch niemand kam gegen meine Schnelligkeit an. Ich hatte das so oft getan und nie war etwas passiert. Wieso sollte es heute dann nicht funktionieren?
Dann begann ich. Zuerst schlich ich mich durch die Menschenmenge immer näher an ihn heran. Er bemerkte mich nicht. Schließlich war es so weit. Innerhalb weniger Sekunden lief ich an ihm vorbei, während ich meine Hand kurz in seine Hosentasche gleiten ließ und wieder heraus. Geschafft! Wie der wohl reagiert, wenn er merkt, daß sein Geldbeutel weg ist? Leise kichernd entfernte ich mich langsam von ihm.
Als ich endlich weit genug von ihm weg war, zog ich mich in eine Seitengasse zurück und schaute zum ersten mal, was alles in dem Portmonee war. Das war ein voller Erfolg gewesen. Damit würde ich meine Eltern für ein paar Tage ruhig stimmen können. Ich war einfach nur glücklich. Für diesen einen Moment.
Bis ich merkte, dass jemand neben mir stand. "Würdest du mir das bitte zurückgeben?" Der Typ von vorhin. Wie hatte er das bloß geschafft? Ich war doch so vorsichtig gewesen. Und niemand hatte mich verfolgt.
Reflexartig wollte ich wegrennen, doch er hielt mich am linken Handgelenk fest. Durch den Schwung, den ich bereits gehabt hatte, rutschte meine Kapuze von meinem Kopf. *Oh nein!*, dachte ich mir. Jetzt war ich dran.
Ein Telefon klingelte. Er holte sein Handy aus der Jackentasche und ging ran. "Ja, was gibt's?"
Die Stimme am anderen Ende redete so laut, dass ich mithören konnte. Und der Namen, den sie sagte, ließ mich wissen, in welcher misslichen Lage ich steckte. "Hallo, Mikoto, wir haben neue Informationen zu *du weißt schon was*." Nun war mir klar, mit wem ich es zu tun hatte: Mikoto Suoh, Anführer von Homra, der gefährlichsten und brutalsten Gang der Stadt. Er war von vielen gefürchtet. *Verdammt!*, fluchte ich gedanklich. Wieso hatte ich mir ausgerechnet ihn ausgesucht? Schlimmer konnte der Tag nicht mehr werden. Die bessere Frage war aber, ob ich den Rest des Tages überhaupt noch erlebte.
"In Ordnung.", antwortete Mikoto mit ruhiger Stimme. "Ich habe nur noch schnell etwas zu erledigen. Dann komme ich sofort zurück." Anschließend legte er auf und wandte sich an mich.
Eine Chance hatte ich noch: Zu meinem Schutz hatte ich immer ein Messer dabei. Mit einer freien Hand ging ich im meine Tasche und wollte es herausholen. Klar würde ich damit nie jemanden verletzen oder sogar töten. Doch wenn ich das zog, würde er bestimmt für einen Moment erschrecken und mich loslassen.
"An deiner Stelle würde ich das nicht tun.", warnte er mich.
Woher wusste er, was ich vorgehabt hatte? Mist. Ich würde hier nicht lebendig raus kommen.
Mikoto zog mich näher zu sich und zum ersten Mal sah er mein Gesicht, das ich bis jetzt immer von ihm abgewandt hatte. Er schaute kurz überrascht drein. Dann verwandelte sich die Überraschung in eine Mischung aus Wut und Neugier. Er legte einen Finger unter mein Kinn und zwang mich damit, ihm in seine bernsteinfarbenen Augen zu schauen. "Wer hat das getan?", fragte er mich und strich mir über Wange. Ganz plötzlich verwandelte sich die Wut in seinen Augen in Mitgefühl.
"Das ist unwichtig.", meinte ich und schaute zurück auf den Boden.
Er zog seine Hand weg und steckte sie in seine Jackentasche, woraus er nur wenige Sekunden danach eine Schachtel Zigaretten herausholte und sich gleich eine davon anzündete. Leise pustete er den Rauch wieder heraus. Dann hielt er mir seine Hand hin. "Gib in mir zurück." Er wagte es nicht mehr mich anzusehen.
Ich verstand seine Reaktion nicht. Trotzdem gab ich ihm den Geldbeutel. Ich hatte keine Lust auf weiteren Ärger mit der gefährlichsten Gang der Stadt.
Mikoto bedankte sich und lächelte dabei. "Und hör bitte auf zu stehlen.", bat er mich. "Egal, warum du das tust."
Ich nickte automatisch. Moment, hatte ich gerade eben wirklich gesagt, dass ich nie wieder stehlen würde? Aber das musste ich doch! Wenn ich kein Geld mehr mit nach Hause brachte, würde es wieder Ärger geben.
"Bis dann.", waren seine Worte, während er die Hand hob und mir zum Abschied kurz winkte, bevor er um die Ecke bog.
Jetzt verstand ich gar nichts mehr. Hatte er etwa Mitleid mit mir gehabt? Das wollte ich nicht. Ich brauchte kein Mitleid. Von niemandem.

So das war das erste Kapitel. Ich hoffe, es hat euch gefallen.

Eure Lina

K-Project - Die wahre GeschichteWo Geschichten leben. Entdecke jetzt