Kapitel 29

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Am vorherigen Abend war ich zu spät schlafen gegangen, und dann noch mit nervösen Hintergedanken. Ethan und mein neues Buch hatten mich zu sehr gefesselt. Jetzt machte sich der Schlafmangel bemerkbar, ich konnte im Deutschunterricht kaum aufrecht sitzen. Sophie überließ mir gnädig den Großteil ihres mitgebrachten Kaffees und am Ende der Stunde wurde ich endlich relativ wach. Es war eindeutig, ich war abhängig von Kaffee, vor allem wenn ich auf Schlafentzug war.

Ganz selbstverständlich fand ich mich in der Pause auf Ethan's und meiner Wiese hinterm Nordflügel ein. Vorher hatte ich mir noch einen zweiten Kaffee am Kiosk besorgt, den ich jetzt, auf Ethan wartend, trank. Etwas mehr Koffein konnte schließlich nicht schaden.

Als er um die Ecke kam, erhellte sich mein Gesicht automatisch und als er bei mir ankam stellte ich den Kaffee ab, um ihm dann um den Hals zu fallen. Unsere Schule war groß, und ich hatte ihn heute noch nicht gesehen. Ethan und ich hatten außerdem festgestellt, dass wir außer Mathe und Musik keinen einzigen Kurs zusammen belegten.

Umso mehr freute ich mich jetzt und behielt die Arme länger als nötig um ihn. "Na hast du mich vermisst?", fragte er grinsend und selbstbewusst. Um ihn etwas zu ärgern, nahm ich meine Arme von ihm und ging ein wenig zurück. Dann runzelte ich die Stirn, sah ihn direkt an und sagte "Nicht wirklich."

Verwirrt und von seinem hohen Ross runtergekommen blickte er mich an. Ich hielt meinen ernsten Gesichtsausdruck genau 24 Sekunden lang, bis es um meine Mundwinkel zu zucken anfing. Dann brach ich in Kichern aus, seine Miene war einfach zum Totlachen. Als auch er verstand, was ich mit ihm gespielt hatte, zog er kurz die Stirn zusammen und lächelte dann fies.

Plötzlich setzte er beide Hände jeweils links und rechts neben meinen Kopf und sah mir in die Augen. Ich vergaß, wie lustig gerade noch alles war. "Tja, ich dich schon." Seine Nähe, seine Augen, sowie das Gesagte raubten mir den Atem. "Du kleines Miststück!" Damit beugte er sich zu mir und überwand die letzten Centimeter, um seine Lippen stürmisch auf meine zu drücken. Ungewollt musste ich in den Kuss hinein grinsen, denn er hatte mir meine kleine Nummer wirklich kurz abgekauft. Ich war eine gute Schauspielerin. Er bemerkte mein Lächeln und zog mich nur noch näher an sich.

Atemlos, aber diesmal pünktlich erschien ich zum nächsten Unterricht. Sophie kommentierte mein Erscheinen Augen verdrehend neben mir, aber ich konnte die Freude in ihren Augen sehen. Sie war mit mir zusammen glücklich und freute sich total, das wusste ich.

Bis zum Unterrichtsanfang quatschte ich noch mit ihr und bekam alle Neuigkeiten bezüglich Colin. Anscheinend schrieben sie seit dem Geburtstag viel, und Sophie klang ganz aufgeregt, als sie von ihm erzählte. Das freute im Gegenzug wieder mich.

Hadley hingegen hatte ihr merkwürdiges Verhalten immer noch nicht abgelegt. Sie ignorierte uns zwar nicht, aber sie schwieg weiterhin den ganzen Tag, und hatte mir heute außer Hallo kein einziges Wort gesagt. In den Pausen holte sie sofort ihr Handy raus, und tippte bis zum Ende darauf, sodass sie nicht mit uns reden musste. Da sie aber immer in unserer Nähe war, konnte ich mit Sophie nur lange und vielsagende Blicke tauschen.

Die Mittagspause wurde von Ethan als Frage-Stunde missbraucht. (Ich schaffte es gerade schnell genug etwas zu essen, bevor er startete.) Er war schrecklich neugierig und hatte unglaublich viele Fragen an mich. Ich schaffte er gerade schnell genug was zu essen, bevor er startete. Wann hatte ich Geburtstag? (Ich nannte ihn nur ungern, denn es war schon in wenigen Wochen soweit.) Meine Lieblingsblumen? (Natürlich Tulpen.) Lieblingsfarbe? (Rot.) Es nahm kaum ein Ende und im Gegenzug wollte ich natürlich auch ziemlich viel von ihm wissen. Geburtstag hatte er am 8. Januar und da wurde er schon 19. Durch den Schulwechsel hatte er die Klasse wiederholen müssen und war deshalb auch älter als der Durchschnitt. Er kam mir gar nicht so alt vor, aber er war tatsächlich fast einundhalb Jahre älter als ich. Als ich ihn auf den Grund für den Umzug ansprach, wich er mir aus und fing stattdessen mit Lieblingsessen an. Vielleicht etwas sehr persönliches, und ich wollte auch nicht darauf herumhacken.

Außerdem hatten wir inzwischen sämtliche Verwandten meinerseits durch und einige seinerseits. Ich erzählte kurz von Nick, und dann von meinen Cousins. Mütterlicherseits hatte ich nur eine einzige Cousine, die ich sowieso kaum sah.

Seine Schwester in Amerika kannte ich schon von den Fotos und seine restliche Verwandtschaft wohnte bei Heidelberg, denn dort wuchs sein Vater auf, was ich jetzt wusste. Nach allen Vornamen zu fragen wäre auch schlau gewesen, aber bei meinem Kurzzeitgedächtnis hätte ich mir sowieso nicht alle Namen merken können. Da hätte ich irgendwann mein Handy rausgeholt und alles aufgenommen, und das wäre sicher peinlich geworden.

Ethan sah gerne Filme, aber Lesen und Bücher mochte er nicht. Er meinte, die Bücher würden ihn nicht richtig fesseln, das täten nur wenige. Für mich unvorstellbar, und das sagte ich ihm auch. War eine interessante Diskussion, denn ich beharrte darauf dass Ethan einfach nur die falschen Bücher las. Naja, jedem das seine. Und Filme waren doch schon mal etwas, schließlich sah ich auch rund um die Uhr Filme oder Serien. Wenn ich nicht gerade las oder lernte.

Und weiter ging es mit der Fragerunde.

"Ja Liv, ich mag Kaffee. Sehr sogar. Das ist wichtig für dich was?", stellte er fest. Ich war dran wieder eine Frage zu stellen und ich entschied mich eben für die vorläufig wichtigste Frage: ob er Kaffee trank. Und er tat es. Ich freute mich total über diese Übereinstimmung, es brachte uns irgendwie näher.

"Ja natürlich ist das wichtig! Wer könnte schon ohne Kaffee leben?", versuchte ich das auszudrücken.

"Na, ich wahrscheinlich nicht. Und du eher auch nicht. Tja wir werden gemeinsam draufgehen, weil man uns keinen Kaffe gegeben hat.", schmunzelte er. Ich konnte mich nur darauf konzentrieren dass er gemeinsam gesagt hatte. Es hörte sich schön an.

"Wenn du dir drei Städte aussuchen dürftest, um dort eine Woche zu verbringen, welche wären es?" kam flott die nächste Frage. Die ersten Fragen waren vergleichsweise zu diesen einfach gewesen.

"Nur drei?", fragte ich bedauernd.

"Nur drei."

"Das ist total schwer!", beschwerte ich mich. "Hmm..ich denke London, New York und Sydney. Und du?"

"Keine schlechte Auswahl. London, L.A. und Blakeney.

"Auch nicht schlecht. Blakeney?"

"Dort wohnen meine Großeltern. Wir besuchen sie zweimal im Jahr. Es ist ein kleines, grünes, verregnetes Dorf im Norden Englands. Für mich ist es ein Paradies." Ja, so klang er auch.

Als die Realität mal wieder nach uns rief, konnte ich gar nicht glauben, dass wir uns gerade in der Schule befanden. Hier, auf dem Rasen sitzend kam ich mir so rein gar nicht schulisch vor, als wären wir in unserer eigenen Welt. Diese Welt hatte durchaus seine Reize. Und außerdem hätte ich noch hunderttausend weitere Fragen gehabt, ich war von Natur aus sehr neugierig, sagte meine Mum immer. Doch vorerst würden sie unbeantwortet bleiben.

Ethan stand auf und reichte mir seine Hände, um mich hoch zu ziehen. Ich versuchte mich so leicht wie möglich zu machen, und landete trotzdem fast auf ihm. Er küsste mich ein letztes Mal und da hatte ich selbstverständlich nichts dagegen. Ich schmolz unter seinen Lippen und an seinem an mich gepressten Körper.

"Ich ruf dich später an.", kündigte er noch an, nachdem wir gelöst hatten. Na wenn das mal kein Versprechen war!

Zum Schulschluss, nach zwei weiteren ätzenden Stunden, beschloss ich noch Hadley anzusprechen. Ich war gerade so gut drauf, und war diesbezüglich sehr offen. Ich sagte oft (wenn auch nicht immer erwünscht), was ich dachte. "Hadley? Was zum Teufel ist mit dir los?" Während wir den leeren Flur entlang liefen, hob sie den Kopf von ihrem Handy. Sie wirkte erstaunt dass jemand mit ihr redete. "Was?"

"Ist alles in Ordnung bei dir?", fragte ich nochmal und versuchte ein wenig netter zu klingen. "Ja klar, alles bestens.", kam sofort die Antwort und ein eiskalter Blick ging hinter mich, bevor er wieder aufs Handy flog. Auch ich drehte den Kopf, konnte aber niemanden sehen. "Sicher Hales?", mischte sich jetzt auch Sophie mit ein. Sie klang besorgt, bekam aber auch nur einen genervten und bösen Blick ab.

"Ja, man. Bye!" Waren ihre letzten Worte, und schneller wie ein geölter Blitz war sie aus der Schule raus und in den Bus eingestiegen. Sophie und ich konnten nur wieder rätseln, was wir auf dem Weg nach Hause auch taten, denn es wurde wirklich seltsam. Wir durften Hadley nicht im Stich lassen und mussten ihr helfen wenn sie Probleme hatte! Schließlich kam es auf so etwas in einer Freundschaft an, das man aufeinander zuging und sich alles erzählte, was einen bedrückte.

Closer to youWhere stories live. Discover now