Kapitel 66

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Orientieren und nicht weinen. Du überlegst jetzt logisch und fängst nicht an zu flennen wie ein kleines Mädchen, ermutigte ich mich selbst und versuchte mich vom weinen abzuhalten.

Also: am schnellsten ging der Weg nach Hause mit dem Bus. Wo zum Teufel war die nächste Bushaltestelle? Da Ethan mich bisher immer gefahren hatte hatte ich keine Ahnung, aber ich stürmte einfach los. Doch dieser Plan wurde vereitelt, denn als ich sah, wie Ethan mir hinterher eilte, wusste ich dass er mich spätestens an der Bushaltestelle in die Enge treiben würde und mich dazu zwingen würde, ihm zuzuhören. Wenn er etwas wollte, bekam er es. Und wenn er es nicht sofort bekam, suchte er sich einen Weg, um es dennoch zu erreichen.

Meine Erinnerung an seine Zielstrebigkeit lies mich innehalten und auf ihn warten. Ich hatte es gerade mal bis zum Ausgang ihres königlichen Familienhauses geschafft, als Ethan mich einholte.

Sein verzweifelter Anblick rüttelte an meinem Herz und ich wollte ihm doch eine Chance geben und ihm zuhören. Doch ich versteifte mich sofort, als ich sah wer gleich hinter ihm auftauchte. Meine "undefinierbar-in-welchem-Status-vielleicht-Freundin" Hadley. Meine ehemalige beste Freundin, meine jetzige irgendwas. Sie stand neben ihm und hatte einen erstaunlicherweise weder schuldbewusst noch traurigen Gesichtsausdruck, sondern eher einen etwas ärgerlichen, freundlichen Gesichtsausdruck. Worüber ärgerte sie sich? Wenn, dann war ich ja wohl diejenige, die sich ärgern durfte, schließlich hatten mich alle belogen.

"Liv, es gibt für alles eine logische Erklärung, kein Grund auszurasten, ehrlich!", setzte Hadley an etwas zu sagen, als Ethan sie scharf unterbrach. "Die ich dir gleich erzählen werde, wenn Hadley gegangen ist." Had stand der Schock ins Gesicht geschrieben, sie war wohl der Meinung gewesen, sie würden mir zusammen erklären, was hier abging. Doch Ethans tiefe, ernste Stimme widersprach ihr.

Oder sie war der Meinung gewesen, Ethan bevorzugte sie mir, flüsterte eine spottende Stimme in meinem Kopf, was er nicht tat. Haha. Er schickte sie stattdessen weg. Es ging mir gleich besser, als er das sagte und ich fühlte mich etwas weniger hintergangen. Er hatte immernoch Interesse, es mir selbst zu erklären. Vielleicht bestand ja doch noch Hoffnung, das das alles nur ein Missverständnis war.

Etwas leiser, aber doch gleich ernst fügte er hinzu: "Ich muss es ihr selbst erklären, denn es ist meine Schuld. Bitte geh einfach und lass es mich erklären." Hadley unterbrach ihn erst mit "Es ist nicht komplett deine Schuld!..", stoppte sich dann aber selbst, schien sich zu fügen und ging. "Falls du reden willst oder mich brauchst: ich bin immer für dich da Liv!", sagte sie noch leise und von ihrem vorhin freundlichen Gesicht war jetzt nur noch eine traurige, fast ängstliche Version übrig. Ich nickte ihr nur zu und sah dann zusammen mit Ethan zu, wie sie das Anwesen verließ und ging.

"Dann erzähl mal!", versuchte ich mit Pokerface ganz cool zu wirken, obwohl ich innerlich fast durchdrehte. Ethan sah sich um. "Nicht hier..wollen wir nicht reingehen?", drängte er.

"Nein, entweder du erklärst mir das hier und jetzt oder gar nicht!", zischte ich, denn ich wusste sofort, was er damit bezweckte. Meine Fluchtmöglichkeiten eingrenzen. Außerdem wäre ich drinnen viel beeinflussbarer, da ich mit Ethan in seinem Haus schon so viel erlebt hatte und allein seine Anwesenheit ließ mich an das erste Treffen denken, oder daran wie er mich letztes Mal im Flur zum Abschied küsste. Oder was letzte Woche im Musikzimmer passiert war. Oh Gott, mir wurde warm bei diesen Gedanken und ich wollte eigentlich nur noch die Flucht ergreifen. Drinnen würden diese Gedanken und die Ablenkung durch Erinnerungen realer werden und er wusste das. "Jetzt!", wiederholte ich mich.

Er seufzte. "Setz dich wenigstens.", sagte er etwas traurig und deutete auf eine Holzbank in der Nähe. Ich folgte ihm und achtete darauf genügend Sicherheitsabstand zu ihm zu haben, als ich mich setzte.
"Eigentlich sieht das schlimmer aus, als es ist. Aber lass es mich wenigstens erklären Liv, okay?", bat er mich. Ich nickte und bereitete mich auf das Schlimmste vor.

"Ich weiß zwar nicht woher du von den Anrufen an Hadley wusstest, aber die meisten von ihrer Seite aus waren nur wegen deinem Geburtstag. Sie hat mich nur angerufen, um darüber zu reden. Wenn du wissen möchtest, was wir dir schenken, und was wir geplant haben, kann ich es dir sagen. Aber glaub mir, es ging nur darum!" Ich schüttelte den Kopf und spürte sowohl Erleichterung als auch Schuldgefühle. Hatte ich Hadley umsonst angezickt? Aber was meinte er mit von ihrer Seite aus? Sie hatte ihn nur kontaktiert wegen meinem Geschenk und der Party, die sie zusammen mit Sophie plante. Also war es nur logisch, dass sie ihn anrief um alles mit meinem festen Freund abgeklärt zu haben. Das schlechte Gewissen gegenüber Hadley überkam mich. Allerdings war ein anderer Gedanke im Vordergrund. Was war mit den Anrufen, die er an sie gemacht hatte?

"Und von deiner Seite?", fragte ich leise. Was war es, was ich nicht wusste? Irgendein Puzzleteil fehlte mir noch. Ethan seufzte und sah für einen Moment so aus, als würde er gern meine Hand nehmen, ließ es aber bleiben. "Meine Anrufe an Hadley waren zuerst auch nur wegen deinem Geschenk, du kannst die Nachrichten lesen, es handelte sich nur um deine Party, die Planung und deinen Geburtstag."

"Also haben Had und du keine Affaire miteinander?", fragte ich kleinlaut. Ethan riss die Augen auf und ein kleines Grinsen schlich sich auf sein Gesicht. "Natürlich nicht. Liv, ich will nur dich! Ich liebe dich!"

Irgendwie fühlte ich mich jetzt noch schuldiger, weil ich eine für mich gedachte Überraschung ruiniert hatte und weil sich ein Geschenk für mich zu überlegen und deswegen zu kommunizieren überhaupt nicht schlimm war. Und seine Liebeserklärung ließ mich fast anfangen zu heulen. Alle meine Vermutungen waren unbegründet gewesen. Ich wusste aber auch, dass nach "zuerst" noch ein "aber dann" kam. "Aber..?", half ich ihm aus, denn er sah aus als würde er noch etwas sagen. Er holte tief Luft.

"Aber dann warst du letzte Woche und die letzten Tage so seltsam. Denk nicht, dass es mir nicht aufgefallen wäre. Erst dachte ich, es wäre nichts schlimmes und du erzählst es mir bestimmt von selbst. Aber du hast nichts gesagt. Und weiterhin geschwiegen. Also..hab ich Hadley angerufen und um ein Treffen gebeten, mit Vorwand wegen deinem Geschenk...und hab sie gefragt, was du vor mir verheimlichst."

Ich schluckte. Er wusste es? Ich hätte wissen müssen, dass er es mir ansieht. Aber ich dachte nicht, dass er mich so gut lesen könnte. Er kannte mich wohl doch besser als ich dachte. Hatte Hadley es ihm erzählt?

"Ich weiß, ich hätte dich eigentlich selbst fragen müssen, aber ich war hin und hergerissen. Einerseits wollte ich, dass du es mir von selbst erzählst, andererseits wollte ich unbedingt wissen was dich bedrückt und ich wusste nicht ob du es mir überhaupt von selbst erzählst."

"Es tut mir so leid!", Ich verstand ihn total und verfluchte mich selbst, dass ich ihn in so eine Lage gebracht hatte. Ich senkte den Blick. Er klang so, als wüsste er es und als hätte Had es ihm erzählt. Er sollte mich verachten, dass ich ihm so etwas verschweigen hatte, nachdem er mir alles über seine Exfreundinnen erzählt hatte. "Du musst mir glauben, dass ich es bereue!", versuchte ich mich zu verteidigen.

Doch er kniff verärgert und verwirrt die Augen zusammen. "Ich weiß es nicht. Hadley hat mir nichts erzählt. Sie hat außer einem besorgten Blick und der Warnung dir mehr Zeit zu lassen, komplett dicht gemacht."

Erleichterung machte sich in mir breit. Ich könnte es ihm selbst erzählen, er hatte sich noch kein Urteil über mich gebildet. Und inzwischen wollte ich es ihm auch erzählen, ich verspürte den Wunsch, ihm von meinem Fehler, meinem Racheakt zu erzählen.

"Ich erzähle es dir.", meinte ich leise und zog die Füße auf der Bank an. "Ich will es dir erzählen. Aber du musst versprechen, mir bis zum Ende zuzuhören."

Closer to youWhere stories live. Discover now