Mein Platz im Leben

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Blitzschnell zog ich meine Hände vor den Körper, biss in die Hand vor meinem Mund und stürzte nach vorne. So abgelenkt von dem Tumult bemerkten sie mich erst, als ich bereits in dem freien Feld zwischen dem Clan und den Forschern stand, welcher eine Art neutrale Zone darstellte. Überrascht hielten auch Adriana und Tlen in ihrem Streit inne und alle starrten mich an. Ich blickte auf die Forscher mit denen ich jetzt so lange gereist war, dass ich alle ihre Marotten kannte und die stellvertretend für die Forscher in ihrer Stadt am Wasser standen, die mir über Monate die Welt meiner Eltern nahe gebracht hatten. Auf der anderen Seite sah ich in das Gesicht von Ais. Sie hatte mich aufgenommen und dem Waisenkind, welches beide Eltern verloren hatte ein Zuhause, eine Familie und eine Zukunft gegeben. Die Liebe, die ich durch sie, Nossan und Nefet erfahren hatte und immer noch erfuhr war mit nichts zu vergleichen.

„Ich stehe hier zwischen den Fronten. Aufgewachsen bin ich hier im Clan der Malos, doch eine von ihnen bin ich nie geworden. Hineingeboren wurde ich zu den Forschern, deren Sprache ich jetzt sprechen kann, deren Sitten ich kenne und deren Glauben ich verstehe. Doch auch dort bin ich keine von ihnen geworden. Ich bin weder eine Clanfrau noch eine Forscherin, denn ich bin beides. Genau hier, wo ich jetzt stehe, gehöre ich hin. Hier zwischen die Fronten, um die Wogen zu glätten und eine Annäherung zu ermöglichen." Alle hörten mir aufmerksam zu.

„Oberhaupt Ais, Älteste Tlen. Diese Leute hier halten euere Kinder fest, doch noch ist niemand zu schaden gekommen. Es gibt Möglichkeiten einer Einigung, ohne weiteres Blutvergießen. Auf beiden Seiten ist schon genug Blut geflossen." „Das ist nicht ausreich..." fing Tlen an, doch ich unterbrach sie: „Lass mich ausreden."

„Anführerin Andriana" ich wählte absichtlich die Sprache der Clans, damit Gael es nicht verstand und ich musste, wenn ich langsam sprach, konnte sie mich gut verstehen. „wir sind schon einigen Clans begegnet und die meisten waren misstrauisch, ängstlich, aber nach dem Kennenlernen nett und offen. Auch hier ist es zu einer Tat der Angst gekommen. Der Clan der Malos sah die Schießübungen im Wald und fürchtete die Waffe und die Menschen mit der Weißen Haut. Der besondere Umstand, dass ich in diesem Clan aufgewachsen bin und zum Schluss als Verräterin verbannt wurde gab den Ausschlag für den Überfall. Ein schrecklicher Überfall vor über einem Jahr hat dazu geführt, dass dem Clan die Männer fehlen und die Frauen zu Kriegern wurden. Der Clan, der friedlich an einem Ort lebte musste umherziehen und Gefahren entgegentreten, statt sie auf sich zukommen zu lassen. Dies ist der Grund für den Überfall. Das Handeln der Malos war nicht korrekt, aber nachvollziehbar. Auch ihr seid gegen die ‚Wilden' mehr als einmal zu vorgegangen." Adriana nickte langsam als Zeichen, dass sie mich verstand.

Ich wandte mich jetzt beiden Parteien zu: „In jedem Kampf gibt es das Risiko, dass Menschen verletzt oder getötet werden. In diesem Kampf mussten Nael und Fenira sterben. Ich kannte sowohl den einen als auch die anderen und trauere um beide. Keiner trägt mehr Schuld an dem Tod des anderen. Alles ist auf mehrere dumme Zufälle zurückzuführen, doch ein ‚Was wäre wenn' bringt uns nicht weiter. Ich möchte euch beide Bitten die Feindseligkeiten beiseite zu legen und friedlich miteinander zu diskutieren und zu verhandeln. Es gibt etwas, was für beide Seiten Gewinnbringend wäre. Wenn ihr die Waffen sinken lasst, können wir uns zusammensetzen und alles miteinander besprechen." Schlug ich vor und schaute nun abwartend zu Adriana und Ais. Beide schienen meinem Vorschlag nicht abgeneigt. Doch sofort kam Tlen auf Ais zu und Gael auf Adriana. Ich sah wie eine Flut an Worten auf die Beiden einprasselten.

Doch plötzlich hob Ais die Hand und legte sie auf Tlens Mund. Dann erhob sie die Stimme und sprach zu ihrem Clan: „Es geht hier um eure Kinder und um eure Zukunft. Daher ist es nicht gerecht, wenn wir für euch entscheiden. Bitte hebt euere Hand, wenn ihr damit einverstanden seid die Blutschuld als ausgeglichen zu sehen und mit den Weißen in Verhandlung zu treten." Zögerlich hoben sich zwei Hände, wobei ich auch Nefet entdeckte, die ohne Mayra am Zelt stand. Ihre Hand hob sich als erste. Weitere Hände folgten. Schließlich hatte ungefähr zwei Drittel des Clans die Hand gehoben. „Damit ist es entschieden. Gebt unsere Kinder frei und wir können in Verhandlung treten." Sagte Ais zu Adriana. Adriana hatte Gael ignoriert und das Ereignis aufmerksam beobachtet. Sie drehte sich zu ihren Männern und gab den Befehl: „Sengt die Messer und gebt die Kinder frei." Zwei der Männer gehorchten, doch Gael zögerte. Adriana ging zu ihm hin und legte ihre Hand auf das Messer. „Dein Verlust ist nicht in Worte zu fassen, doch weiteren Menschen ein solches Leid aufzubürden ist keine Lösung. Nael ist nun in den Händen des heiligen Vaters und wacht über dich. Möchtest du, dass er dich so sieht?" Gael sengte den Blick und ließ das Messer los, sodass Adriana es übernehmen konnte. Die Kinder warteten nicht lange und rannten zu ihren Familien. Die Gewehre und die Bögen wurden gesengt und man versammelte ich zu Verhandlungen im Zelt des Oberhauptes.

Erschöpft schloss ich die Augen. Ich hatte es geschafft. Ich hatte verhindert, dass meine beiden Welten kollidierten. Jetzt erneut zwischen den beiden Parteien in der Verhandlung erkannte ich, dass dies wirklich mein Platz war. Da gehörte ich hin. Ich war die Vermittlerin zwischen den beiden Welten. Meine lange Reise, deren Sinn ich erst jetzt erkannt hatte, hatte mich hierhergeführt. Ich hatte endlich meinen Platz im Leben gefunden.


Sintalis - Weiße RoseWo Geschichten leben. Entdecke jetzt