Die Lehre

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Ein lautes Klingeln holte mich aus dem Schlaf. Stöhnend setzte ich mich auf und hielt mir die Ohren zu, bis das Klingeln vorbei war. Schläfrig kämpfte ich mich aus der Decke. Sorgfältig hob ich den weichen Stoff vom Boden auf und faltete es ordentlich auf dem Schlaflager zusammen. Bett, korrigierte ich mich selbst. Seit ich vor drei Wochen zu Yermo gekommen war, hatte er in den Gebrauch all dieser fremden Gegenstände eingewiesen. Dennoch schaffte ich es nicht mich auch nur für kurze Zeit auf dieses Bett zu legen. Das Gefühl in die Unendlichkeit zu fallen war noch immer da. Auch das Sofa im „Wohnzimmer" mied ich so gut es ging.

Yermos Haushälterin Lucía kam jeden Morgen in mein Zimmer und machte mein Bett. Ich fand es unerträglich, dass eine fremde Person sich für mich bemühen musste und so übernahm ich fortan die Pflege meines Bettes und des Zimmers. Es klopfte an der Tür. „¡adelante!" antwortete ich und Lucía kam herein: „Buenos días señora, ¿cómo durmió?" Inzwischen hatte ich einige Wörter der Sprache der Weißen, die sie Spanisch nannten, gelernt, doch das Sprechen fiel mir immernoch furchtbar schwer. „Muy bien, gracias Lucía." Stotterte ich vor mich hin. Die liebevolle Lucía lächelte mich nur an, ging dann zu meinem Fenster, zog die Vorhänge auf und öffnete es. Dann verschwand sie durch die Tür nur um kurze Zeit später mit einem riesigen Berg von Stoff wiederzukommen.

Seit drei Wochen lernte ich nun schon die Sprache, den Umgang mit den Gegenständen, die Sitten, die Bräuche und das gute Benehmen. Ich wohnte im zweiten Stock des Hauses von Yermo und verließ nur selten das Haus, meist nur zu Ausflügen in das Lager (nein, Stadt), bei denen mir Yermo die Tätigkeiten erklärte. Yermo hatte mir erklärt, dass sie Siedler seien, Forscher, die von einem anderen Kontinent gekommen sind, um diesen hier besser kennen zu lernen. Ich verstand wenig von dem was er mir sagte, doch ich verstand, dass sie sehr weit gereist waren auf der Suche nach Wissen. Ab und zu fragte ich mich, warum sie nach Wissen suchten, wo sie doch schon so viel hatten. Yermo war älter als irgendein Clanmitglied je gewesen war und er erklärte mir, dass sie bei sich Medizin hatten, die das Leben verlängerte und Ärzte, die beinahe jede Krankheit heilen konnten. Ich kam mir mit meiner Ausbildung als Heilerin dagegen dumm vor. Wofür brauchten Menschen, die schon so viel Wissen hatten, noch mehr?

Ein Ruck, der mir die Luft abschnürte, riss mich aus meinen Gedanken. Lucía hatte mir in das Kleid aus Unterkleid, Korsett, Rockgestell und Überkleid geholfen. Sie drückte mich auf einen Schemel und machte sich dann daran mit rotem Pulver meine Wangen zu bearbeiten und mit schwarzem Stift meine Augen. Als nächstes folgten die Haare. Sie steckte sie mir zu einem komplizierten Knoten hoch, sodass nicht mal eine winzige Strähne sich befreien konnte. Die ganze Prozedur dauerte eine halbe Ewigkeit. Schließlich zufrieden mit meinem Aussehen klatschte sie in die Hände und war verschwunden. Ich seufzte schicksalergeben, als ich mich im Spiegel sah. Ich sah aus wie eins dieser Möbelstücke hier und fühlte mich genauso beweglich. Steif setzte ich einen Schritt vor den anderen und ging die Treppe hinunter.

Untern erwartete mich bereits Yermo. Er verneigte sich sehr galant vor mir, als ich unten ankam, ich versuchte ebenso elegant einen Knicks zu machen, doch ich verlor das Gleichgewicht und Yermo musste mich auffangen. Kopfschüttelnd betrachtete er mich, ein Gesichtsausdruck, den ich in diesen drei Wochen fast durchgängig zu Gesicht bekommen hatte. Egal wie sehr ich mich anstrengte, Yermo konnte ich es nie recht machen. Und wie an jedem Tag begann meine Ausbildung schon vor dem Frühstück, heute mit „Höfischer Etikette" wie er es nannte.

Yermo half mir gerade zu stehen und ließ mich den Knicks so lange wiederholen, bis er zufrieden war. Dann gestattete er mir zu Frühstücken, doch auch dort wurde ich von Belehrungen nicht verschont. Ich musste jeden Gegenstand auf dem Tisch mit richtigem Namen ansprechen, bevor ich es benutzen durfte und Yermo ließ mich so lange nach einem Gegenstand fragen, bis er mit der Aussprache zufrieden war und ich ihn gereicht bekam. Mit einem leichten Klaps auf den Rücken erinnerte er mich ans gerade sitzen, mit einem Klaps auf die Finger ans Abspreizen des kleinen Fingers und mit einem scharfen Blick ans Lächeln. Nach dem Frühstück folgte der Tanzunterricht, dann musste ich die Thronfolge korrekt aufsagen, dann lehrte Yermo mich neue spanische Wörter, beim Abendessen lernte ich den Gebrauch der verschiedenen Messer und Gabeln und zum Schluss las er mir aus der Bibel vor und ließ mich das „Padre nuestro", das „Vater unser" aufsagen.

Nachdem mich Lucía aus dem Kleid befreit hatte, holte ich mir die Decke von dem Bett und machte es mir auf dem Holzfußboden bequem. Nichts von dem, was ich heute gemacht hatte, hatte für mich einen Sinn ergeben. Nichts davon diente dem Clan, oder wie sie hier sagten: der „Gemeinschaft", brachte Essen auf den Tisch oder diente der Sicherheit. Auch wenn ich mich anstrengte alles so gut wie nur möglich zu machen, wusste ich doch, dass ich es nie lernen würde, solange ich es nicht verstand. Doch wie sollte ich es verstehen? Die Kinder hier waren so aufgewachsen, sie kannten nichts anderes, doch ich konnte weder ihre Sprache, noch wusste ich so richtig mit Messer und Gabel umzugehen, erst recht nicht mit vier verschiedenen davon, auch konnte ich nichts mit ihrem Gott anfangen. Ich konnte nicht verstehen, wie man an nur einen Gott glauben konnte und dann auch noch behaupten, man sei ein Kind dieses Gottes, also demnach auch zum Teil göttlich.

Eine Welle der Traurigkeit und der Einsamkeit überrollte mich, ich kuschelte mich in die Decke, sodass mir der Duft in die Nase stieg, den sie zum Waschen verwendete. Voller Heimweh schleuderte ich die Decke von mir, ich war ein Stockwerk über der Erde und so weit von Zuhause weg, dass mir meine bequeme Liege in dem Zelt mit Ais und Nefet vorkam wie ein Traum von einem anderen Leben. Im Dunkeln stand ich auf, ging zu meiner Schminkkommode und suchte in dem kleinen Kästchen mit meinem Schmuck. Schließlich fanden meine Hände die vertraute glatte Oberfläche des Steins. Mit einem tiefen Atemzug, als könnte ich nur durch die Berührung des Steins meine Heimat in mich aufsogen, drückte ich den Stein an meine Brust.

Sintalis - Weiße RoseWhere stories live. Discover now