Abschied

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„Aua", ich fluchte leise als ich mir heute schon zum fünften Mal den Kopf an der Zeltstange in Mandoos Zelt stieß. Der Rat hatte mir das Zugeständnis gemacht, dass ich von nun an in Mandoos Zelt direkt neben dem Heilerzelt wohnen durfte. Also hatte ich damit begonnen Mandoos Sachen durchzusehen und herauszusuchen, was ich davon gebrauchen konnte und was nicht. Die Kleider waren viel zu groß und auch nicht für eine Frau angemessen. Alle für Mandoo wichtigen Gegenstände waren im Heilerzelt und sehr nützliche Werkzeuge. Er hatte nichts von sentimentalen Gegenständen gehalten.

Einzig und alleine eine Kette mit einem bemalten Stein, die ich ihm in meinem ersten Lehrjahr geschenkt hatte, fand ich. Ich betrachtete sie im Sonnenlicht, welches durch das kleine Loch in der Zeltplane drang. Erst als ein Tropfen auf dem Stein landete, merkte ich, dass ich weinte. Schnell drückte ich sie gegen meine Lippen und zog sie dann über meinen Kopf. Der rote Stein verschwand unter meinem braunen Kleid, doch ich spürte die Kälte des Steins auf Höhe meines Herzens.

Ordentlich legte ich Mandoos Kleidung zusammen und legte sie vor das Zelt. Man würde es schnell wegholen. Kleidung, die nicht erst gefertigt werden musste, war sehr begehrt. Jetzt waren alle Sachen von Mandoo aus dem kleinen Zelt verschwunden. Übrig waren nur noch mein Schlaflager an der Längsseite, die Waschschale auf meiner linken Seite beim Übergang in das Heilerzelt und meine Truhe mit meiner Kleidung auf der gegenüberliegenden Seite. Ich betrachtete mein neues trostloses Heim und ließ mich erschöpft und deprimiert auf mein Lager fallen.

Die Ablenkung, die ich mir durch die Arbeit hatte verschaffen wollen, hatte nicht lange angedauert. Jetzt musste ich mich meinen Fragen stellen: Die Forderung des Rates war unerhört und verärgerte mich noch immer, doch wie sollte ich mich dagegen wehren? Also musste ich mich fügen und einen Lehrling wählen. Gab es noch andere Möglichkeiten? Ich könnte den Clan verlassen, aber wohin? Außerdem: wie konnte ich ohne Nefet und Ais leben? Schon der Gedanke daran schnürte mir die Kehle zu. Doch was würde das Leben bei den Malos noch bringen? Solange ich meinen Lehrling ausbildete, war ich gewissermaßen geschützt. Was würde aber das Leben danach bringen? Durch die erneute Bestätigung, wie sonderbar ich war, würde mich erst recht kein Krieger zur Frau nehmen wollen. Würde ich also als alte einsame Frau irgendwann sterben?

Energisch schüttelte ich den Kopf, meine Gedanken waren verrückt. Meine Zukunft in diesem Clan nach der Ausbildung konnte ich nicht mal im Ansatz erahnen, also musste ich mich auf die unmittelbare Zukunft konzentrieren. Und die war nach Sonnenuntergang, wenn Mandoos Leichnam verbrannt werden sollte. Die Bestattung eines Heilers ist ein besonderes Ereignis, daher hatte der Rat dieses dazu bestimmt, um meine Entscheidung bekannt zu geben. Ich musste jetzt eine Entscheidung treffen, denn es würde nicht mehr lange bis zum Sonnenuntergang dauern.

Um Zeit zu sparen, beschloss ich ein einfaches Ausschlussverfahren anzuwenden: Der Kandidat musste männlich sein und jemand der mich jedenfalls nicht offenkundig verabscheute. Mir fielen nach kurzem Überlegen nur drei Leute ein, die den Kriterien entsprechen würden. Da Nossan aber das Oberhaupt war und nicht gleichzeitig noch Heiler sein konnte, schied er aus. Auch Vazal konnte ich ausschließen, denn er hatte jetzt Nefet und damit eine Familie, was man als Heiler nicht haben durfte. 

Meine letzte Hoffnung war Kyl. Er war ein Junge von 18 Jahren, sehr still und zurückhaltend. Sein Körper entsprach nicht der üblichen Statur eines Kriegers, daher hatte ich kein schlechtes Gewissen, dass er nach meiner Verkündung wohl nie mehr Krieger werden könnte. Seine Eltern waren ebenfalls zurückhaltend und still, sie hatten sich noch nie in die Angelegenheiten des Clans eingemischt und versuchten unsichtbar zu bleiben. Ich hatte noch nie auch nur ein Wort von Kyl gehört oder mit ihm gewechselt, aber das sprach nur für ihn.

Es war also entschieden. Einigermaßen zufrieden bereitete ich mich auf die Zeremonie vor. Ich flocht meine Haare und legte sie mir in einem Kranz um den Kopf und befestigte sie mit kleinen, von Natur aus gebogenen Ästen, die mir Nefet zu meinem 15. Geburtstag geschenkt hatte. Nachdem die Haare fest saßen, machte ich mich an meine Kleidung. Ich nahm das Kleid, dass ich bei Nefets und Vazals Zeremonie getragen hatte, und trennte die inzwischen schon welken Blüten ab. Als ich damit fertig war, legte ich mir als letztes Mandoos Steinkette um. Ich war bereit.

Die Verbrennung des Leichnams war ein Ritual, das der Seele des Toten den Übergang zu den Göttern erleichterte. Man brauchte keine Worte für dieses Ritual und auch keine Kräuter, wie bei Nefets und Vazals Zeremonie. Normalerweise fanden Verbrennungen immer nur im engsten Kreis der Familie statt, doch Heiler hatten keine Familien. Als Heiler wurde man sozusagen von dem ganzen Clan adoptiert. Die Eltern, die man vorher hatte waren dann genauso wie alle anderen im Clan. Obwohl man dadurch eine riesige Familie besaß, waren Heiler oft einsam, es sei den sie wählten einen Lehrling. Mit einem bitteren Geschmack im Mund vermutete ich, dass dies nicht für mich zählen würde. Kaum jemand aus dem Clan würde mich adoptieren wollen.

Als Oberhaupt des Clans stand es Nossan zu, den Leichnam anzuzünden und so trat er vor und steckte den brennenden Ast tief in das Holz, auf das Mandoos Leichnam gebettet war. Schnell fing es Feuer. Noch bevor sein Körper Feuer fangen konnte, trat ich vor, nahm die Kette von meinem Hals und legte sie ihm auf die Brust. Dann trat ich einen Schritt zurück und verbeugte mich vor dem Feuer. Erst als ich Salz im Mund schmeckte, merkte ich, dass ich weinte. 

Als Mandoos Kleidung anfing zu brennen, flüsterte ich: „Mögen die Götter dich beschützen". Immer noch so dicht am Feuer, dass ich die Hitze kaum aushalten konnte, fügte ich hinzu: „Dieser Clan wird sich nie verändern. Danke, dass du es versucht hast. Du hast mir einen Sinn zu leben gegeben. Ich werde kämpfen, so wie du es immer wolltest. Noch weiß ich nicht wie, aber ich werde eine Heilerin sein, auf die du stolz sein kannst." Ich warf einen letzten liebevollen Blick auf sein Gesicht, bevor ich mich abwandte. Ohne nochmal einen Blick auf das Feuer zu werfen, wartete ich auf den Moment, wenn Nossan die Stille durchbrechen würde und verkünden würde, dass Mandoos Seele nun bei den Göttern wohnt.

Sintalis - Weiße RoseWhere stories live. Discover now