Der Angriff

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Die Wochen vergingen und ich stellte fest, dass Kyl sich die Theorie sehr gut merken konnte, es jedoch bei der praktischen Umsetzung haperte. Beim Mischen der Mixturen fehlte ihm die Geduld und das Ergebnis waren klumpige Salben und Tinkturen mit Bodensatz. In Gegenwart der Patienten war er ruhig und hörte sich geduldig die Leiden an und machte auch gute Vorschläge, wie mit dem Leiden umzugehen war, jedoch sobald er Hand an den Patienten legte zeigte er kein Einfühlungsvermögen. Gerade bei Kindern machte er häufig den Fehler sie zu ignorieren. Er redete mit mir und erklärte sein Vorgehen, wandte sich dann ohne weitere Erklärungen an das Kind und strich ihm beispielsweise eine Salbe auf ohne vorher zu erklären, dass dies nun brennen würde.

Mehr und mehr konzentrierte ich mich nun darauf ihm zu zeigen wie man mit Patienten jedes Alters umzugehen hatte. Kyl verstand noch nicht wirklich den Sinn dieser Übungen und teilte dies auch in seinen wöchentlichen Berichten dem Rat mit. Tlen als Vertreterin des Rates schien es unglaublich viel Spaß zu machen, extra bei mir vorbeizuschauen um mir zu sagen, dass ich meine Ausbildung doch bitte fachlicher gestalten sollte. Tatsächlich bot sie mir mit verschlagenem Lächeln an, dass ich mich gerne an sie wenden könnte, falls mich diese Anforderung überfordern würde.

Pflichtschuldig widmete ich mich den einzelnen Mixturen und ließ Kyl diese anmischen. Legte hier jedoch sehr viel Wert auf die richtige Durchführung. Stundenlang verbrachte er mit Rühren, bis ich mit dem Ergebnis zufrieden war. In der darauffolgenden Woche bekam ich erneut Besuch vom Rat, doch diesmal war ich vorbereitet. Ich zeigte eine klumpige Salbe von Kyls ersten Arbeiten und eine gut durchgemischte Salbe und erläuterte, wie stark sich die Wirkung verändern würde, wenn eine Salbe nicht richtig durchgemischt war. Tlen hatte keine Chance gegen meine Argumente und musste mit zähneknirschend Recht geben. In dieser Runde ging ich als Siegerin hervor.

Die nächsten Wochen verliefen größtenteils ereignislos. Ich hatte mir angewöhnt einmal die Woche zum Essen zu Nissan und Ais zu gehen und manchmal schaffte es auch Nefet vorbeizukommen. Bei dem heutigen Treffen war auch Vazal mitgekommen und es versprach ein lustiger Abend zu werden. Noch lange nach dem Essen saßen wir beieinander und redeten. Es musste schon längst auf Mitternacht zugehen, als Nefet und Vazal sich verabschiedeten. Nachdem sie alle der Reihe nach umarmt hatten hielt Nossan ihnen die Zeltplane hoch. Mit einem Mal hielt er inne und brachte uns mit einer Geste zum Verstummen. Angespannt lauschten wir in die dunkle Nacht. Es war nichts zu hören. Draußen herrschte Totenstille. Langsam ließ Nossan die Plane sinken und drehte sich zu uns um. Wir waren bereits bewaffnet. Nossan schnappte sich seinen Bogen und den Köcher mit etwa 20 Pfeilen und legte direkt eine Pfeil auf die Sehne. Er gab uns ein Zeichen und huschte dann nach draußen. Vazal folgte ihm auf dem Fuß und Nefet und ich kurze Zeit später.

Vazal und Nossan waren bereits verschwunden und weckten die Krieger. Wir trafen nach draußen in die dunkle Nacht. Der Mond zeigte sich nur als dünner Strich am Himmel. Ich konnte Nefet in der Dunkelheit nur erahnen, aber eine kurze Berührung am Arm genügte, damit wir wussten, was zu tun war. Wir rannten zu ein paar nahegelegenen Zelten und weckten so leise wie möglich alle, die wir dort vorfanden. Während sich die Krieger unter ihnen für den Kampf rüsteten, halfen uns deren Familien beim aufwecken der anderen. Innerhalb von wenigen Minuten waren die Krieger kampfbereit und die Frauen bereit die Versammelten Ältesten, Kinder und Kranken zu verteidigen.

Für mich war es Zeit im Heilerzelt auf das Ende des Kampfes zu warten und Nefet begleitete mich um mir Schutz zu geben. Kyl war bereits da, still saß er in einer Ecke und ich hätte ihn bei hereinkommen beinahe übersehen. Nur ein paar Augenblicke nachdem Nefet mit einem gespannten Bogen vor dem Zelteingang Stellung genommen hatte, ging das Kampfgebrüll und die Schreie los.

Stahl traf auf Stahl, Bögen wurden abgefeuert und Stöhnen und Schreie ertönten, wenn die Waffen ihr Ziel trafen. Noch immer war alles dunkel und ich konnte die Gesichter von Kyl und Nefet nicht erkennen.

Eine halbe Ewigkeit saßen wir in völliger Stille, während vor uns die Schlacht im vollen Gange war. Ein schrecklicher Laut, der direkt vor dem Zelt ertönt war ließ uns zusammenzucken. Irgendwo im Lager musste nun doch ein Feuer entzündet worden sein, denn in dem schwachen Licht erkannten wir deutlich wie ein Mann direkt vor unserm Zelt getroffen wurde und ganz langsam zu Boden sank. Auf dem Boden angekommen röchelte er noch immer, vermutlich ein Bauchschuss oder seine Lunge war getroffen. Er hörte nicht auf zu röcheln, die Schlacht war noch immer im vollen Gange, aber dieser Mann vor unserm Zelt starb nicht.

„Freund oder Feind?" fragte Nefet, die nach endlosen Minuten, als erste die Stille brach und uns damit wenigstens für wenige Sekunden von den Geräuschen des sterbenden Mannes ablenkte. Kyl war Kalkweiß im Gesicht. „Ich weiß es nicht." gab ich zurück. „Ich will, dass er stirbt!" Kyls Stimme verriet zum ersten Mal sowas wie Aufregung. Unbewusst rückte er ein Stück näher zu mir.

Wir konnten dem Mann nicht helfen, ob er nun einer unserer Krieger war, oder ein Feind. Nefet lehnte sich vor, bis ihre Lippen so dicht an meinem Ohr waren, dass Kyl, der immer noch dicht neben mir saß, nichts von ihren Worten hören konnte: „Ich könnte einen Pfeil durch die Plane schießen, wenn du sie mir ein wenig zur Seite hälst, das wird bestimmt keiner sehen. Aber was ist, wenn er jemand von unsern Leuten ist? Was wenn...?" Sie sprach Vazals Namen nicht aus, aber das brauchte sie auch nicht. „Der Mann dort hat einen schweren Bauchschuss und vermutlich ist auch ein Teil seiner Lunge getroffen worden. Er wird sich nie davon erholen können, vermutlich würde er auf dem Krankenbett sterben. Gibt ihm die Ehre eines Todes im Kampf."

Nefet nickte mir zu und ich bedeutete Kyl, dass er sich wegdrehen sollte. Dann streckte ich eine Hand aus und öffnete ganz langsam den Zelteingang für wenige Zentimeter. Augenblicklich legte Nefet einen Pfeil auf die Sehne und schoss ihn ab. Der Pfeil traf genau ins Ziel und der Mann verstummte in der selben Sekunde. Das Fehlen des Röchelns fühlte sich an, als wäre Stille eingetreten, Stille in der Nefet und ich uns ansahen und an den unbekannten Mann dachten, den wir gerade getötet hatten.Nach einer Weile stand ich auf, nahm drei Schüsseln und etwas von den Hanlolof Kräutern und mischte dies mit etwas Wasser. Ich gab jeweils Kyl und Nefet eine Schale mit dem Wasser und den Kräutern und behielt die letzte bei mir. „Das Wasser ist kalt, daher dauert es etwas, bis die Kräuter im Wasser ziehen, am besten ihr rührt mit dem Finger immer mal um, dann geht es vielleicht schneller." wies ich die beiden an und stelle meine Schüssel dann auf den Boden und rührte mit dem Finger. Allein schon, dass meine Hände etwas zu tun hatten beruhigte mich und ich sah, dass es Nefet und Kyl ähnlich zu ergehen schien.

Sintalis - Weiße RoseWhere stories live. Discover now