Verbannung

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Ich wusste nicht wie viel Zeit verstrich, während Nefet, Ais und ich bewegungslos auf dem Boden des Zeltes hockten. Wir konnten die Geschehnisse einfach nicht begreifen. Irgendwann brach Nefet das Schweigen: „Aber die können dich doch nicht einfach aus dem Clan werfen. Mutter, kannst du denn gar nichts dagegen tun?“ Ais sah Nefet hoffnungslos an: „Ich kann es versuchen, aber…“ Es war klar, dass niemand, nicht mal der Clanoberhaupt, gegen die Meinung des Rates anreden konnte. Ich rutschte zu Nefet herüber und nahm sie in den Arm: „Es hat einfach keinen Sinn und was würde es mir bringen hier zu bleiben. Der Clan ist nun noch mehr gegen mich als vorher. Wenn ich hierbleiben würde, was würde mich dann erwarten? Angiftungen, Beschimpfungen, Erniedrigungen oder vielleicht sogar Gewalt? Das wäre kein Leben.“

Traurig sahen wir alle zu Boden, dann atmete ich tief durch und versuchte mein Lächeln aufzusetzen. Ich war mir sicher, dass es misslang, aber das scherte mich nicht. „So, genug der Traurigkeit. Ich habe nur noch wenige Stunden mit euch und die will ich genießen. Die Traurigkeit kann noch früh genug kommen.“ Ais und Nefet lächelten mich an. Auch ihnen gelang das Lächeln nicht so ganz, aber wir versuchten es.

Den Rest des Vormittags verbrachten wir mit Schwelgen in Erinnerungen. Wir hielten eine kleine Zeremonie ab, in der wir erst Vazal und dann Nossan gedachten. Wir lachten bei den Erinnerungen, während uns die Tränen über die Wangen liefen. Für mich war es die erste Zeremonie in der ich angemessen den Verstorbenen gedenken konnte und obwohl es für Ais und Nefet nicht die erste und auch nicht die größte Zeremonie war, spürte ich doch, dass das gemeinsame Gedenken uns allen half. Nach dem wir den Toten gedacht hatten, kamen Erinnerungen an die Kinderzeit von Nefet und mir hoch und wir lachten über all die Streiche, die wir gemeinsam ausgeheckt hatten. Nefet versprach mir hoch und heilig, dass sie ihrem Kind genauso viel Unsinn durchgehen lassen würde, wie Ais uns. Ais dagegen wiedersprach und meinte, dass sie das als Großmutter auf keinen Fall nochmal so durchgehen lassen würde.

„Lass mich raten, wenn dein Kind erstmal auf der Welt ist, braucht es nur zu blinzeln und Ais vergibt ihm alles.“ Flüsterte ich Nefet zu. Ais, die das natürlich gehört hatte sah mich streng an. „Glaubst du also ich kann nicht streng sein?“ „Oh doch, nur dein erstes Enkelkind, wird das ganz bestimmt nicht zu spüren bekommen.“ Nefet und ich lachten, während uns Ais weiterhin streng anguckte, doch es dauerte nicht lange, bis sie ebenfalls in unser Lachen einstimmte. „Dieses Kind wird die tollsten Geschichten von seiner Tante hören, dass verspreche ich dir.“ Sagte Nefet schließlich und die Traurigkeit legte sich auf uns. „Ich werde es lieben, ganz egal wo ich hingehe. Ais, Du und dein Kind werden immer in meinem Herzen sein. Ich werde für euch beten und dafür, dass ich euch irgendwann noch einmal sehen kann.“

Von der guten Laue, die wir erzwungen hatten war nichts mehr zu spüren. Schweigend nahmen wir unser Mittagessen ein und dann hieß es sich auf den Abschied vorzubereiten. Zusammen listeten wir Dinge auf, die ich brauchen würde: Essen für mindestens drei Tage, Ein Paar Wechselsachen, einige Kräuter und Salben für den Notfall. Erleichtert stellte ich fest, dass meine Sachen noch da waren. Ais und Nefet hatten sie aus dem Zelt des Heilers herausgeholt, als Kyl dort eingezogen war und nun lagerten sie in Ais‘ Zelt. Ich ging zu dem erstaunlich kleinen Stapel, suchte mir zwei Gewänder raus, sowie ein zweites Paar weicher Lederschuhe. Zusätzlich nahm ich mir noch zwei weitere Haarbänder heraus, die Haarnadeln und die Kette von Mandoo.

„Hier meine Süße, das ist für dich.“ Ais stand vor mir und hielt mir ihren wunderschönen aus weißem Holz geschnitzten Kamm hin mit den filigranen Verzierungen um die Buchstaben „A&N“. „Nein, Ais, das kann ich nicht annehmen, den hat Nossan dir doch geschenkt um dich heiraten zu können.“ „Ja, das hat er, aber ich möchte dir etwas mitgeben, damit du uns beide nicht vergisst. Dieser Kamm ist ein Symbol der Liebe zwischen Ais und Nossan. Aber er ist auch ein Symbol der Liebe von uns zu euch. Weißt du, was ich dem Tag, als man dich im Wald gefunden hat und dich zu Nossan und mir gebracht hat, als erstes gemacht habe? Die Jäger hatten kaum ihren Bericht darüber beendet, wie sie dich gefunden haben, da bin ich auch schon auf dich zugeeilt, habe dich auf meinen Schoß gesetzt, dir mit einem feuchten Tuch den Schmutz aus dem Gesicht gewaschen und dann habe ich dir die Haare gekämmt. Erst als ich anfing deine Haare zu kämmen, hast du aufgehört zu weinen und mich mit deinen großen blauen Augen angeguckt. Das war der Moment, in dem ich beschlossen habe, eine Mutter für dich zu sein.“

Blind vor Tränen fiel ich Ais um den Hals und vergrub mein Gesicht in ihrem Gewand. Wie konnte ich sie nur in wenigen Stunden verlassen? Wie sollte ich meine Mutter verlassen? Ich fühlte mich wieder wie das Kleine Kind, welches in diesem Clan voller Verachtung aufwuchs und welches Schutz, Geborgenheit und Trost in den Armen seiner Mutter suchte. „Danke Mutter.“ Diese zwei Worte drückten nicht annähernd aus, was ich fühlte, welche Dankbarkeit und Liebe ich ihr entgegenbrachte, doch für das was ich empfand fand ich keine Worte. Ais strahlte vor Glück und Liebe: „Ich werde immer deine Mutter sein und dich immer lieben wie eine.“ Sie hatte mich genau verstanden, ich hatte bisher nur wenige Male Mutter zu ihr gesagt. Wir waren Mutter und Tochter, doch seit ich es einmal in Gegenwart der Clansmitglieder gesagt hatte, die daraufhin einen Aufstand veranstaltete hatten, hatte ich es mir abgewöhnt. Überwältigt von der Flut der Gefühle nahm ich Ais erneut fest in die Arme.

Nefet kam herein, mit dem Essen und den Kräutern für meine Reise beladen. Sie sah, wie wir uns Tränenüberströmt umarmten, legte alles zur Seite, kam zu uns und bat um Einlass in die Umarmung. Ais löste sich von uns und sah uns Beide an. „Ach meine schönen Töchter.“ Ich lächelte erst Ais, dann Nefet traurig und trotzdem voller Liebe an. „Ich muss bald los.“ Murmelte ich unwillig. Ais und Nefet nickten, dann trennten wir uns und packten alles nötige zusammen. Die Kleider und die Kräuter schnürten wir mit einem Laken auf meinem Rücken, während wir die Essensvorräte, in einen kleinen Beutel packten, den ich über der Schulter tragen würde. Ich war schwer bepackt. Dies war etwas, an das ich mich gewöhnen musste.

Kurz vor Sonnenuntergang war die Zeit des Abschiedes gekommen. Ich umarmte sie nochmal so fest und innig wie ich konnte. Dann prägte ich mir ihre Gesichter nochmal genau ein. Auch wenn ich dafür beten würde, sie nochmal sehen zu können, fürchtete ich jedoch, dass dies ein Abschied für immer sein würde. „Ich liebe euch.“ „Wir lieben dich auch.“ Es war kein „Auf wiedersehen“, kein „Bis bald“. Was sollte man anderes sagen bei einem Abschied für immer?

Mit Sack und Pack verließ ich das Zelt und Ais und Nefet folgten mir. Sie blieben vor dem Zelt stehen, während ich mich weiter entfernte. Immer wieder drehte mich um. Die Beiden hielten sich im Arm und stützten sich gegenseitig, während sie mir zum Abschied ein Lächeln schenkten. Kurz bevor ein Hügel mir die Sicht nahm, winkte ich ihnen noch ein letztes Mal zu. Dann waren sie verschwunden und ich schritt alleine meiner ungewissen Zukunft entgegen.

Sintalis - Weiße RoseWhere stories live. Discover now