Zweifel

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Die Geschichte meiner Familie hatte mich mitgenommen. Ich erinnerte mich, dass Ais erzählt hatte, dass sie mich kurz nach einem Angriff der Tymlos gefunden hatten. Javier erzählte mir bei Besuchen mehr über meine Eltern und ich trauerte mit ihm. Durch Javiers Geschichten konnte ich mir vorstellen, wie sie waren, doch hatte ich außer äußerlichen Ähnlichkeiten, noch keine Gemeinsamkeit gefunden. Gerne hätte ich gewusst, wie sie mich genannt hätten, doch da niemand von mir gewusst hatte, würde diese Frage nie geklärt werden.

Neben meinen Grübeleien und den Besuchen bei Javier, ging der Unterricht bei Yermo unermüdlich weiter. Vor wenigen Tagen war ich von meinen kreisenden Gedanken und dem Wissen, welches Yermo mir hatte vermitteln wollen, so erschöpft gewesen, dass ich sogar auf dem viel zu weichen Lager geschlafen hatte. Als ich am nächsten Morgen erwachte, kämpfte ich mich in einem plötzlichen Gefühl der Enge aus den Laken und riss das Fenster auf. Mir schlug der beißende Gestank der Stadt entgegen. Naserümpfend schloss ich das Fenster wieder. Auch wenn ich jetzt schon so lange hier lebte, hatte ich mich noch nicht an alles hier gewöhnt. Der Gestank, das ständige Licht und der Lärm kamen mir nicht mehr so schrecklich vor wie am Anfang, doch manchmal wünschte ich mir einfach mich mit dem Rücken an einen Baum zu lehnen und einfach nur dem Lied der Vögel zu lauschen. Je häufiger der Wunsch kam, desto mehr sehnte ich mich nach der Natur, die in diesem Lager vollkommen ausgelöscht zu sein schien, wenn man von den paar gepflückten Blumen im Haus mal absah. Auf meine Frage hin, ob ich das Lager nicht mal verlassen könne, wurde ich so ungläubig angeguckt, als wäre mir ein zweiter Kopf gewachsen. Doch was sollte mir dort draußen schon passieren? Auch während der Zeit von Tamis Stürmen wusste ich, wie ich mich in der Natur bewegen konnte, ohne verletzt zu werden.

Immer häufiger kam mir der Verdacht, dass diese Leute hier keine Ahnung von dem außerhalb ihres Lagers hatten. Damals war ich zu überwältigt gewesen von all den neuen Wörtern, Dingen und Sitten, die ich nicht verstand, um zu hinterfragen, was Yermo mir erzählte, doch je mehr ich von dieser Welt kennenlernte, desto mehr fragte ich mich, was sie hier wirklich taten. Sie seien Forscher hatte Yermo erzählt, doch wie ich nun aus der Geschichte meiner Eltern wusste, wurden die Ausflüge nach draußen bei der kleinsten Schwierigkeit abgesagt. Niemand hatte mir bisher erzählt, dass es Friedliche Abkommen mit den Clans gab. Offensichtlich war der Einzige Weg, wie die Menschen hier ohne Waffen mit den Clans kommunizierten, indem beide Seiten eine Geisel hielten.

Je mehr ich über die eigentliche Bestimmung dieser Menschen hier nachdachte, desto merkwürdiger kam mir alles vor. Während meiner Ausflüge durch die Stadt präsentierte Yermo mir stolz, was sie alles gebaut hatten, und erzählte mir, dass sie zuhause bei sich alles was hier hatten, nur viel größer, viel besser und viel schneller hatten. Manchmal fragte ich mich zynisch, warum sie dann nicht dortgeblieben waren, wenn da doch alles besser ist. Sie waren hierhergekommen, um dieses Land kennenzulernen, doch fürchteten sie sich einen Schritt vor ihre Haustür zu machen. Seit ich hier angekommen war, wurde mir beigebracht, wie ich mich in ihrem Land zu verhalten hätte, was ich zu sagen hätte, wie ich auszusehen hätte, an was ich glauben sollte und am besten gleich auch was ich zu denken hätte. Doch niemand, war je auf die Idee gekommen mich nach meinem Leben zu fragen. Zu fragen, wie ich ausgewachsen bin, wie ich gelebt hatte und an was ich geglaubt hatte. Mir wurde ihre Verhaltensweise aufgedrängt, als wäre sie die einzig Richtige und die einzige Art wie man leben konnte.

Bisher hatte ich nicht viel darauf geachtet, doch keiner von ihnen hatte je einen Namen eines Clans in den Mund genommen. Für sie waren die Clans nur „La salvaje", „Die Wilden". Es hatte keine Bedeutung, ob einige Clans kriegerisch waren und andere nicht, ob einige umherzogen und andere sesshaft waren. Niemanden interessierte es, welchen Gott die einzelnen Clans anbeteten oder wie sie ihre Toten begruben. Unwillkürlich fragte ich mich, ob es meine Eltern interessiert hatte. Sie waren Monate lang allein unterwegs, so lange konnten sie nur aushalten, indem sie keine Bedrohung für die Clans darstellten. Sie waren friedlich gewesen und hatten erkannt, dass der Weg, den die Forscher eingeschlagen hatten, nicht der Weg war um das Land kennen zu lernen.

Immer mehr ärgerte ich mich über die Ignoranz der Forscher. Auch wenn mich niemand Wilde genannt hatte, so wurde mir hier doch alles ausgetrieben, was mich mit den „Wilden" verband. Je mehr ich mich in das Thema vertiefte, desto mehr Trotz stieg in mir auf. Ais und Nossan waren meine Eltern und Nefet meine Schwester, sie waren meine Familie, auch wenn mein Aussehen und mein Blut mich mit den Forschern verband, so konnte und wollte ich meine Familie nicht verleugnen. Auch wenn ich nie in ihre Welt gepasst hatte, so fühlte ich, dass ich hier auch nicht hingehörte. Ich hatte so lange nach einem Platz für mich gesucht, doch auch wenn ich hier weder Missgunst, Spott, Abscheu und Erniedrigungen ausgesetzt war, konnte ich doch nicht 20 Jahre meines Lebens ausradieren und vorgeben, ich wäre wie alle anderen hier.

Mit einem Ruck erhob ich mich von dem Lager, auf dem ich gegrübelt hatte. Es war bereit tiefste Nacht, doch mein Entschluss flößte mir neue Energie ein und machte Schlafen unmöglich. Ich würde nicht so weitermachen wie bisher. Ab jetzt würde ich mir einen Teil meines bisherigen Lebens wiederholen.

Sintalis - Weiße RoseWhere stories live. Discover now