Wiedersehen

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Ohne die Chance mich abzustützen, fiel ich ungebremst nach hinten und landete unsanft auf meinen gefesselten Händen und dem Rücken. Als mein Kopf aufschlug entfuhr mir ein gequälter Schmerzenslaut. Die Person, die mich umgeworfen hatte, war ebenfalls gefallen, hatte sich jedoch abfangen können und musste nun direkt über mir liegen. Plötzlich auf dem Rücken liegend mit verbundenen Augen fühlte ich mich so hilflos und schutzlos wie ein umgedrehter Käfer. Ich erwartete schon den Schmerz des nahenden Todes, doch mit einem Mal fing die Person über mir an zu kichern. „Es tut mir so leid." Sagte sie immer noch kichernd und ich vergaß sofort alle Schmerzen. „Nefet?" fragte ich. Sie zog mir das Tuch von den Augen und ich blickte in die wunderschönen braunen, klugen Augen meiner Schwester. Nefet hatte aufgehört zu kichern und sah mich nun liebevoll an. „Siela, ich habe dich so vermisst." Die Tränen rannen ihr über die Wangen und sie beugte ich, um mich zu umarmen. Auch mir liefen jetzt die Tränen und befeuchteten ihr dunkles, dickes Haar.

Wir lagen so eine Weile, bis sich jemand räusperte. Nefet löste sich von mir, drehte mich auf die Seite, um dir die Fesseln zu lösen und half mir dann beim Aufstehen. Wieder frei, sehend und auf den Beinen stand ich nun vor einer weiteren Frau, die sich mit Tränen überströmtem Gesicht in meine Arme warf. „Ais, Mutter" hauchte ich. „Meine Tochter" flüsterte sie. Ich sah über ihre Schulter Nefet an, die sich vor Rührung eine Hand aufs Herz gelegt hatte. Mit einer freien Hand winkte ich ihr zu und sie kam, um Teil der Umarmung zu werden. So standen wir drei da. Endlich war die Familie wieder vereint.

Etwas zog heftig an meinem Kleid. Ich löste mich von Nefet und Ais und trat einen Schritt zurück. Dabei brachte ich die kleine Gestalt, die sich an meinem Kleid hatte hochziehen wollen aus dem Gleichgewicht und sie plumpste unsanft auf ihr Hinterteil. Kurz saß sie verdutzt auf dem Boden, dann verzogen sich die kleinen Lippen und sie fing an zu weinen. Nefet kam auf sie zu und hob sie hoch. Ich stand nur überrascht da und schaute zu, wie sich das kleine Wesen an Nefet schmiegte und die Tränen versiegten.

Als das schlimmste abgewendet war, drehte Nefet sich so, dass ich dem Kind ins Gesicht sehen konnte. „Mayra, darf ich vorstellen, dass ist deine Tante Siela. Siela, darf ich dir deine Nichte Mayra vorstellen?" Etwas unbeholfen nahm ich die kleine Hand in meine und strich mit dem Daumen darüber. „Hallo, Mayra, wie schön, dass ich dich endlich kennenlernen darf." Mayra schaute auf meine Hand, die ihre hielt, dann zog sie sie weg und vergrub sich wieder bei ihrer Mutter. Diese lachte: „Eigentlich ist sie ein richtiger Wildfang. Sie wird sich schon an dich gewöhnen." Ich lächelte leicht. Es war komisch Nefet jetzt in der Rolle der Mutter zu sehen. Doch in den liebevollen Blicken, mit denen sie ihre Tochter betrachtete, erkannte ich ihre Liebe zu Vazal, die durch Mayra für immer weiterleben würde. Wieder standen wir einfach nur so da und genossen das Beisammensein mit der Familie, die durch Mayra gewachsen war. Leise redeten wir miteinander und brachten uns so in sehr kurzer Form auf den neusten Stand.

„Was macht die denn hier?" Die Stimme und der Tonfall, der mir ebenfalls viel zu vertraut waren zerstörten die Idylle. Die Älteste Tlen kam ins Zelt. Vermutlich hatten die Wachen ihr berichtet, dass sie mich gefangen hatten. Ais stellte sich sofort vor mich. Sie hob an was zu sagen, doch Tlen fuhr ihr über den Mund: „Ich dachte wir waren damals eindeutig, Siela. Du bist verbannt und darfst nicht mehr zum Clan zurückkehren. Zu allem Überfluss gehörst du jetzt zu deinesgleichen, die, ohne zu zögern morden." Mit ihren Worten kochte die alte Wut in mir hoch, als wäre kein Tag vergangen. Ich riss mich zusammen: „Ich kam zu euch, ohne zu wissen, wer ihr seid. Mein Ziel war es lediglich euch vor dem Überfall der Forscher zu warnen und eine friedliche Möglichkeit zu ersinnen."

„Friedlich? Pah!" spie Tlen aus. „Deine Leute haben Fenira getötet, einfach so während des Rückzuges. Ihr habt ihr den ehrenwerten Tod im Kampf verwehrt." Traurig sah ich auf den Boden. Ich erinnerte mich an Fenira, die drei Jahre weniger zählte als ich. Sie war immer wild gewesen und hatte sich heftig bei meiner Verspottung beteiligt. Dass sie jetzt tot war, war kaum zu glauben. „Auch auf der Seite der Forscher gab es einen Toten und sein Bruder hat, als ihn seine Gefühle überwältigten auf die Angreiferin ihres Bruders geschossen." Versuchte ich Gaels Tat zu erklären, wobei ich vermied mich auf eine Seite zu stellen. Mehr denn je merkte ich, dass ich zwischen ihnen stand. Zwischen den Forschern und dem Clan und somit jetzt zwischen den Fronten.

„Es gab auf beiden Seiten Verluste, doch sollte dies erneut zu einem Kampf führen? Einem, der in euerm Lager ausgetragen wird?" fragte ich, um erneut meine Warnung ins Gedächtnis zu rufen. „Ihr seid viel weniger, es dürfte ein leichtes Sein euch zu töten." Sagte Tlen trocken, wobei ein eindeutiges ‚Was dich miteinschließt' mitschwang. „Unterschätzt nicht die Waffen der Forscher, sie sind etwas, was ihr noch nie vorher gesehen habt. Sie töten auf die Entfernung und sind schneller als jeder Pfeil." „Warum haben sie dann die Waffen nur einmal im Kampf vor zwei Tagen eingesetzt?" fragte Berina, eine stattliche Frau, die mit Tlen hereingekommen sein musste. So wie sie gekleidet war, nahm ich an, dass sie zu den Wächtern gehörte und vermutlich bei dem Überfall dabei gewesen war. „Beim Überraschungsangriff bringen die Waffen wenig, jedoch mit ein wenig Planung, wofür die Forscher nun genug Zeit hatten, können die Waffen mehr als effektiv eingesetzt werden." „Kann man die Waffen unschädlich machen? Oder etwas dagegen tun?" Fragte Berina. „Ich fürchte nichts in diesem Lager würden den Kugeln standhalten. Sie durchschlagen Stoff und Holz ohne Probleme. In den letzten Monaten bin ich mit den Forschern durch das Land gezogen und wir haben mit den Clans verhandelt. Bestimmt gibt es eine friedliche Möglichkeit. Ich könnte euere Botschafterin sein." „Gibt es etwas, was wir den Forschern anbieten können?" erwiderte Berina, die mich neugierig und erst ansah.

„Wie könnt ihr nur auf die da hören?" ging Tlen dazwischen. „Sie hatte noch nie etwas Gutes im Schilde und ausgerechnet jetzt sollen wir ihr trauen?" Genau in dem Moment ertönte ein ohrenbetäubender Knall.


Sintalis - Weiße RoseWhere stories live. Discover now