Doktor Gervais

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Ich begann damit abends zu meinen Göttern zu beten, auch wenn ich ihnen unter freiem Himmel keine Opfer darbringen konnte, improvisierte ich so gut es ging. Ab und zu stahl ich ein oder zwei der Blumen aus den Vasen und brachte sie Sinta da oder ich stahl Getreide aus der Küche und legte es als Nahrung für die Vögel hin um Leiku zu ehren. Diese kleinen Rituale durchbrachen den immer gleichen Ablauf meines Tages und ich durfte mich wieder einen kurzen Augenblick meiner Adoptivfamilie näher fühlen. Ich ehrte Mandoo, Nossan und Vazal und betete für die Gesundheit von Ais, Nefet und ihrem Kind. Jedoch tat ich alles heimlich und stets mit der Angst entdeckt zu werden. Lucía schlich einige Tage misstrauisch um mich herum, nachdem sie mich einmal kurz nach einer Opferdarbringung für Sinta erwischt hatte. Ich verhielt mich einige Tage normal und zerstreute so ihr Misstrauen.

Bei meinem Unterricht zeigte ich großes Interesse an der Pflanzenwelt, die die Forscher mitgebracht hatten, ich studierte ihre Namen und fragte nach Bedeutungen und Verwendungen. Yermo freute sich über meinen Wissensdurst, kam jedoch bald an die Grenzen seines Wissens. Nachdem er auch keine Bücher fand, die meine Fragen beantworteten, brachte er mich schließlich zu Gervais, einem „doctor". Er erklärte mir geduldig, dass er dafür zuständig war, die Menschen hier zu heilen. Bei einer Führung durch sein Zimmer, zeigte er mir die verschiedensten Instrumente, die er zum Heilen verwendete. Einige davon jagten mir einen Schauder über den Rücken. Gervais erzählte mir, dass bei ihnen Zuhause auch nur Männer den Beruf des „doctor" erlernen durften. Jedoch erzählte er auch, dass bei den meisten von Ihnen eine Frau arbeite, da diese sich besser auf die Pflanzenwelt und das Lindern kleinerer Gebrechen verstanden.

Nach einigem Flehen, bei dem Gervais mich unterstützte, schafften wir es Yermo zu überzeugen, dass ich einmal die Woche zu Gervais durfte und bei ihm helfen durfte. Gervais war ein alter Mann mit weißem Vollbart, was ihm ein freundliches Aussehen verlieh. Beim Gehen zog er ein Bein etwas nach, wodurch seine Schritte in dem Haus immer deutlich von anderen zu unterscheiden war. Wir brauchten ein paar Tage, um uns aneinander zu gewöhnen, hauptsächlich, da seine Aussprache nicht sehr deutlich war. Er käme aus einem Nachbarland und hätte dort in der Armee gedient, nach der Verletzung am Bein wurde er noch als junger Mann entlassen und begann dann die Lehre zum Doktor.

Auch wenn ich gut mit Gervais zurechtkam, so wollte auch nichts von meinen bisherigen Erfahrungen wissen. In einem kleinen Haus hinter seinem, welches vollkommen aus Glas bestand, züchtete er die Pflanzen seiner Heimat. Nach und nach lernte ich ihre Namen und vor allem ihre Fähigkeiten beim Heilen. Einige Pflanzen waren vergleichbar mit denen, die ich kannte, einige komplett anders. Besonders faszinierte mich eine Pflanze mit vielen blauen kelchförmigen Blüten an einem Stängel. „Aconitum napellus" nannte Gervais sie, sie war hoch giftig und konnte zum Tod führen, jedoch wenn man nur eine Winzigkeit davon nahm, wirkte sie Schmerzlindernd bei wiederkehrenden Schmerzen in den Gelenken und konnte sogar bei Erkältungen eingesetzt werden. Doch, obwohl Gervais immer wieder beklagte, wie mühsam es war die Pflanzen hier wachsen zu lassen, da es viel zu heiß und zu trocken sei, so wollte er dennoch nichts von der Bedeutung meiner Pflanzen hören. Sobald ich auch nur ihre Namen aussprach, schaute er mich an wie eine Fremde, dann murmelte er meist was Unverständliches und ich brauchte den Tag nicht mehr in seine Nähe kommen.

Ich freute mich wieder als Heilerin tätig zu sein, obwohl das bis jetzt hieß, still danebenzusitzen, während Gervais sich um die Patienten kümmerte. Wenn ich Glück hatte, durfte ich ihm etwas holen oder reichen. Aber er nahm mich überall hin mit, zeigte mir seine Rezepte und die Pflege seiner Pflanzen. Jede Woche freute ich mich auf die Zeit, die ich dort verbringen durfte und so versuchte ich nichts zu tun, um dieses Privileg wieder zu verlieren.

Zwei Monate später begleitete ich Gervais auf einen Besuch zu einer Familie. Die Kinder der Familie, zwei Mädchen und ein Junge im Alter von maximal 10 Jahren, lagen in ihren Betten blass und so heiß, dass ich erschrocken die Hand zurückzog, als ich ihre Stirn berührte. Die Eltern blickten verzweifelt zu Gervais, der die Kinder untersuchte, in ihren Hals guckte, in ihre Ohren und ihre Nasen. Mit gerunzelter Stirn fuhr er sich mit der einen Hand durch den Bart und mit der anderen durch die Haare, ich kannte ihn nun schon gut genug, um zu erkennen, dass er keine Ahnung hatte, was den Kindern fehlte. Ich untersuchte die Kinder nun ebenfalls, horchte wie sie atmeten, untersuchte ihre Bäuche und roch sogar an ihrem Urin. Gervais gab den Kindern etwas gegen das Fieber, doch wir beide wussten, dass dies den Kindern vielleicht kurz Linderung verschaffen würde, jedoch die Krankheit nicht heilen konnte. Schweigend gingen wir zurück zu seinem Haus, während wir beiden unseren Gedanken nachhingen. In seinem Pflanzenhaus brach ich das Schweigen: „Ich glaube ich weiß, was die Kinder haben. Wir nennen es „Flandis", es befällt nur Kinder, sie werden schwächer und schwächer und es dauert nicht lange, bis sie sterben. Unsere Heiler haben vor Generationen ein Mittel hergestellt, damit können die Kinder geheilt werden. Ich kann es herstellen, müsste aber erst die Zutaten suchen. Uns bleibt nicht viel Zeit, die Kinder sind bereits sehr schwach."

Wortlos hatte Gervais mir zugehört, während sich die Falten auf seiner Stirn vertieften. Sein Mund bildete eine gerade Linie und ohne ein Wort zu sagen, deutete er mit dem Finger auf die Tür. Ärgerlich und trotzig blieb ich an Ort und Stelle: „Ich weiß, wie ich den Kindern helfen kann. Was ist mit dir, weißt du das auch? Lass mich ihnen helfen, sonst müssen sie sterben." Keine Chance. Gervais deutete immernoch auf die Tür und auch ein erneutes Flehen half nichts. Mit wütend stampfenden Schritten ging ich hinaus. Ratlos stand ich nun vor seiner Tür. Normalerweise brachte mich Yermo hin und holte mich ab, doch heute war ich viel zu früh dran. In Gedanken schlenderte ich durch die Gassen und überlegte, was ich nun tun sollte. Ich wusste, wie ich den Kindern helfen konnte, doch dafür brauchte ich die Zutaten für den Trank. Einige davon wuchsen fast überall, wie Unkraut, doch das Arneon-Moss würde ich nur an den entsprechenden Bäumen finden und die Blüte der Saluna Pflanze nur in der Nähe eines süßen Wassers. Ich musste das Lager verlassen, wenn ich den Kindern helfen wollte. Durch meinen Marsch mit dem Halander Clan, wusste ich wo ich einen Arnon-Baum und einen Teich finden würde. Es war nicht weit, alles zu finden würde mich vermutlich nicht mal einen Tag kosten. Nur einen Tag und vielleicht noch eine Nacht zum Anrühren, morgen um diese Zeit könnten die Kinder geheilt werden. Doch so einfach würde ich das Lager nicht verlassen können. Während ich durch die Straßen schlich, dachte ich mir einen Plan aus.

Zum Mittagessen kehrte ich ins Haus von Yermo zurück, er fragte gar nicht erst, was passiert war, obwohl es jetzt schon einen Monat her war, dass Gervais mich wegen meiner Äußerungen über meine Heimat nach Hause geschickt hatte, kam es ihm wohl vor wie gestern. Nach dem Mittagessen bot ich der Köchin an, sie zu unterstützten, da sich meine Aufgabe für den Tag ja erledigt hatte und ich wusste, dass Yermo es begrüßte, wenn ich mich benahm wie „eine wohlerzogene Dame". In der Küche schaffte ich es neben dem Abwaschen des Geschirres auch ein paar Lebensmittel in meinem weiten Rock verschwinden zu lassen. Zum ersten Mal wusste ich die tausend Lagen diese Stoffungetüms zu schätzen. Nach dem Abendessen, bei dem ich besser zulangte als normal, ging ich wie gewohnt zu Bett, bat Luía jedoch vorher noch mir für die Nacht ein zusätzliches Laken zu bringen. Ich gab vor kalte Füße zu bekommen und so vorkommend wie Lucía war, brachte sie mir gleich zwei Laken und eine Pfanne mit glühenden Kohlen und platzierte es so an dem Fußende des Bettes, dass die Pfanne meine Füße die ganze Nacht über warmhalten würde. Ich dankte ihr überschwänglich und tat interessiert an dieser neuen Entdeckung, bis ich mich höflich entschuldigen konnte. Sie wollte mir noch aus meinem Kleid helfen, doch ich lehnte ab und meinte ich müsste ja auch mal lernen, wie ich mich allein Auskleiden könne. Jedoch war ides leichter gesagt als getan. Nach einigem hin und her mit den Verschlüssen auf meinem Rücken, stand ich schließlich im Unterkleid da. Dieses war das einzige Kleidungsstück, was annähernd dem glich, was ich im Clan getragen hatte. Nur waren unsere Sachen nie so unglaublich weiß gewesen.

Kaum war im Haus stille eingekehrt, nahm ich mein Laken und die zwei neuen, band sie aneinander, räumte mein Fensterbrett und die außen daran befestigten Blumen aus dem Weg und begann an dem am Kamin festgebundenen improvisierten Seil am Haus herabzuklettern. Die unebene Oberfläche der Wand und die nach jeder Etage herauskragenden Deckenpfeiler erleichterten mir das Klettern. Kurze Zeit später stand ich am Boden. Das Letzte Laken strich zur Hälfte über den Boden und so war es mir ein leichtes es abzuknoten und mir als Umhang um die Schultern zu legen. Leider war auch dieses weiß und ich fürchtete, dass ich so in weiß gekleidet sofort entdeckt werden würde. Doch ich setzte meinen Weg ohne Probleme fort, an dem hohen Lattenzaun ihrer Abgrenzung angekommen strich ich mit dem Finger über diese, bis ich das lose Brett fand, welches ich in der Früh entdeckt hatte. Die Öffnung war schmal und die Nägel zerrissen mir das Laken und schürften mir die Haut auf, doch ich schaffte es ohne Aufsehen zu erregen hinaus.

Sintalis - Weiße RoseWhere stories live. Discover now