Die Entscheidung

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Sofort nachdem Nossan mit den Worten: „ Die Seele unseres geehrten Heilers Mandoo wohnt nun bei den Göttern. Möge er von dort unsere Taten beobachten." die Zeremonie für beendet erklärt hatte, brach Unruhe aus. Jeder flüsterte dem anderen was zu und jeder hatte das gleiche Thema. Namen wurden mal mit mehr mal mit weniger Zuversicht ausgesprochen. Jeder glaubte zu wissen, auf wen meine Wahl fallen würde. Als das Gemurmel immer lauter wurde, schnappte ich ein paar dieser Namen auf: Elentras, Wiseratlus, Minf, Kanasael, Patwon und so weiter. Alles angesehene Clanmitglieder und teilweise sogar im Rat.

Der Clan würde es lieber sehen, wenn ich ein älteres Mitglied ausbilden würde, damit der übliche Kreis von einem alten weisen Heiler, der einen jungen Lehrling ausbildet, wieder hergestellt wäre. Es wäre der absolute Albtraum mit einem der Älteren zu arbeiten, einem Mitglied, was fest verankert im Clanleben ist und sich damit seine eigenen Vorurteile über Veränderungen gebildet hat. Oder anders gesagt, es wäre ein Albtraum mit jemandem zu arbeiten, der sich eine so feste Meinung über mich gebildet hat, dass ich mich nie in seinen Augen verändern würde. Ich kannte Kyl nicht und seine Familie auch nicht. Ich konnte nur hoffen, dass er sich noch keine so feste Meinung gebildet hatte. Ob er wohl wütend sein würde? Er war in der Ausbildung zum Fährtenleser. Was wenn ich ihm seinen Traum zerstörte?

So tief in Gedanken versunken, bemerkte ich erst jetzt, dass sich das Gemurmel zu einem wahren Tumult gesteigert hatte und mir Nossan fragende Blicke zuwarf. Ich nickte kurz. „Ruhe! Siela wird uns nun ihre Entscheidung mitteilen." Mir entging nicht, dass Nossan nicht den Titel der Heilerin benutzte, ein weiteres Zeichen dafür, dass der Clan mich nie als Solche sehen würde. Ich war nur ein Mittel zum Zweck, um den misslichen Umstand zu korrigieren, dass Mandoo, dachte den Clan verändern zu können. Kaum, dass Nossan seine Stimme erhoben hatte, verstummten alle und richteten ihre Blicke nun auf mich. Ich stand neben Nossan auf dem Podest und durfte dieses eine Mal und vermutlich das letzte Mal eine Entscheidung treffen, die nicht hinterfragt werden konnte. Die Angst vor Veränderung war nicht nur der Grund, dass ich hier gezwungenermaßen stand, um einen Lehrling zu erwählen, sondern auch der Grund, dass ich diese Entscheidung alleine treffen durfte.

„Ich habe Kyl zu meinem Lehrling erwählt. Nimmst du an?" Kyls Kopf schoss bei der Nennung seines Namens in die Höhe. Ich begegnete seinen braunen Augen, die kaum eine Regung verrieten. War er wütend? Seiner Mutter neben ihm war die Überraschung deutlich anzusehen.Die Mitglieder des Clans fingen an eine Gasse für Kyl zu bilden, doch der stand weiterhin wie erstarrt da. Erst als ihm jemand die Hand auf die Schulter legte, rührte er sich und ging langsam durch die Gasse auf das Podest zu. Jedes Mitglied, an dem er vorbeikam, legte ihm kurz und sacht die Hand auf die Schulter, eine Art Glückwunsch, aber so ernst wie manche guckten, bemitleideten sie ihn wohl eher. Das Ganze lief vollkommen still ab und als Kyl nach diesem langen Gang endlich vor mir stand legte ich ihm beide Hände auf die Schultern und wiederholte erneut: „Nimmst du an?".

Im Grunde ist diese Frage überflüssig, weil es nie jemand wagen würde mit „nein" zu antworten. Kyl neigte langsam den Kopf und sah mich dann wieder an. Er schien noch immer nicht wirklich glauben zu können, was gerade geschah. Mit dieser Einverständniserklärung von Kyl war die Versammlung beendet und der Clan begab sich wieder an seine täglichen Aufgaben. Mit einer Hand auf Kyls Rücken führte ich ihn sacht durch die kreuz und quer laufende Menge zum Heilerzelt.

Die Zeltplane hinter uns fiel herunter und tauchte uns in Dunkelheit. Mit einem Griff hatte ich die Zündsteine in der Hand und beugte mich über die Feuerstelle, in der ein paar trockene Äste lagen. Nach viermaligem Zusammenschlagen der Steine sprangen die Funken auf die Äste über und Licht umfing uns. Scheu sah sich Kyl in dem Zelt um, ging langsam an den Regalen entlang und strich mit den Fingern über die Beschriftung der Töpfe. Schweigend wartete ich auf sein Urteil.

Nach einiger Zeit sah mich Kyl wieder an. Ich lächelte ihn vorsichtig an. „Jetzt noch einmal etwas weniger formell. Ich bin Siela. Der Ältestenrat hat mich beauftragt, einen Lehrling zu finden, dem ich innerhalb eines Jahres das Heilen beibringe und der dann meinen Platz als Heiler übernimmt. Mit deiner Zustimmung hast du dich heute dazu verpflichtet, ein Leben als Heiler dieses Clans zu führen, ohne Familie, nur dem Clan zu Diensten." So wie ich es sagte, klang es, als würde man sich in die Sklaverei des Clans begeben, doch genauso war es und genau das hatte ich gewollt.

Nachdenklich legte Kyl den Kopf schief. Erneut fuhr er mit den Fingern über eine Beschriftung. „Falls du es dir anders überlegt haben solltest, werde ich im Rat bestimmt eine Möglichkeit finden, dass ich einen neuen Lehrling wählen kann." Etwas bitter fügte ich hinzu: „Sie haben bestimmt noch jemanden im Auge, den sie mir liebend gern als Lehrling unterschieben würden. Aber ich habe dich ausgewählt, da ich mir vorstellen kann, dass ich mit dir gut arbeiten kann."Kyl sah mich an, ohne auch nur die leiseste Gefühlsregung erkennen zu lassen: „Ich bleibe dein Lehrling." Er nickte mir würdevoll zu und trat dann aus dem Zelt. Verdutzt stand ich nun alleine im Zelt. Das würde wohl keine sehr gesprächslastige Ausbildung werden.

Pünktlich am nächsten Morgen erschien er abwartend im Heilerzelt. Etwas unschlüssig stand ich vor ihm. Ich hatte gerade erst meine Ausbildung abgeschlossen und fand mich plötzlich in der Rolle der Lehrerin wieder. Doch Mandoos Worte, mit denen er mir jede Einzelheit erklärt und mich für mein Geschick gelobt hatte, flößten mir neues Selbstvertrauen ein. Selbstsicher richtete ich mich vor Kyl auf. Er war wenige Zentimeter größer als ich und schien auch nicht sonderlich beeindruckt.

Geschickt ignorierte ich ihn und deutete auf die Gefäße in denen getrocknete und bereits gemahlene Pflanzen lagerten. „Bei dem letzten Angriff habe ich für die Wundsalben die meisten der Vorräte verbraucht. Wir beginnen mit den Pflanzen, die wir für eine schwache Heilsalbe brauchen. Mit der schwachen Heilsalbe können oberflächliche Wunden, Kratzer und bereits im Heilungsprozess befindliche Wunden behandelt werden."

Ich ging zu einem der Gefäße und öffnete es. „Hier haben wir Smeijraut. Es unterstützt die Haut beim Heilen." Mit dem Finger fuhr ich durch das dunkelgrüne Pulver und hielt mir dann das Gefäß unter die Nase. „Aufgrund des guten Geruchs wird es auch in Tinkturen zur Beruhigung oder zur Förderung des Einschlafens verwendet." Auffordernd hielt ich es Kyl hin, der seine Nase in die Öffnung steckte. Er zeigte keine Reaktion, als er wieder aus dem Gefäß auftauchte. Enttäuscht, ihm nicht mal damit eine Regung entlockt zu haben, fuhr ich fort.

Ich erklärte ihm ein Kraut nach dem anderen und wie sie in Verbindung mit der Heilung standen. Dann erklärte ich ihm, wo diese Kräuter zu finden waren. Die ganzen Informationen nahm er auf, ohne einmal nachzufragen. Morgen würden wir uns auf die Suche nach den Kräutern machen und so bat ich Kyl einen Begleitschutz für uns zu organisieren. Damit entließ ich ihn. Als er gegangen war, ließ ich mich erschöpft auf einen Hocker fallen. Ich hatte den ganzen Tag nur geredet und die Alleinunterhalterin gespielt. Langsam bekam ich eine Ahnung, wie schwierig diese Ausbildung werden würde. Hatte ich mir wirklich den Richtigen für diese Ausbildung ausgesucht? Konnte sich jemand, der so wenig Gefühle zeigen konnte, in die Situation der Anderen hineinversetzen?

Seufzend vergrub ich mein Gesicht in meinen Händen. Er war nun Mal mein Lehrling und um ihm alles in nur einem Jahr beizubringen, war es vielleicht von Vorteil, dass er sich auf Anhieb alles zu merken schien.Erneut wanderten meine Gedanken in die Zukunft. Nach dem Abschluss seiner Ausbildung müsste ich dabei zusehen, wie er die Mitglieder des Clans versorgte, ohne ihn weiter dabei zu unterstützen oder seine Fehler zu korrigieren. Falls ich es nicht schaffte, ihm alles gut genug innerhalb eines Jahres beizubringen und durch sein Unwissen würde jemand sterben, war es meine Schuld.

Ich stellte mir vor, wie ich schuldbeladen Jahr für Jahr in diesem Clan lebte und mit jedem Toten wurde die Last größer. Entsetzt schüttelte ich den Kopf. Auch wenn ich nur zu gerne gegen den Clan rebelliert hätte, indem ich seine Ausbildung verzögerte und ihm nicht alles beibrachte, so war es jedoch auch in meinem Interesse, die Ausbildung so sorgfältig und so umfangreich wie möglich durchzuziehen.

Sintalis - Weiße RoseWo Geschichten leben. Entdecke jetzt