Der Kompromiss

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Am nächsten Morgen kam der Rat erneut zusammen, es musste eine Entscheidung gefällt werden. Mein Körper kribbelte und ich brauchte meine gesamte noch verbliebene Kraft, um diese durch Schlafmangel ausgelösten Symptome zu unterdrücken. Alles in mir schrie nach dem Schlaf, den ich letzte Nacht nicht finden konnte. Daher war auch mein Geist nicht wach genug, um sofort die Abwesenheit von Tlen zu bemerken. Das kleine Fünkchen Hoffnung in mir deutete dies als ein gutes Zeichen.

Auch wenn ich jetzt nicht mehr Tlens nervige Stimme hören musste, war die Stimme von der Frau, die jetzt das Wort ergriff, auch nicht viel besser. „Der Rat hat beschlossen, dich vorübergehend...", dieses Wort betonte sie besonders, „...als Heilerin einzusetzen, bis du deinen Lehrling ausgebildet hast." Für kurze Zeit blieb alles still, offensichtlich waren alle gespannt auf mein Gesicht. Weiterhin die Müdigkeit unterdrückend, versuchte ich, meinen Gesichtsausdruck neutral zu halten.

Denn obwohl das bis jetzt alles sehr gut klang, hörte es sich jedoch nach einem ziemlich üblen „aber" an und ich wollte auf keinen Fall den hier Anwesenden die Genugtuung geben und mich freuen, damit die unausweichliche Enttäuschung ihnen noch mehr Freude bereiten würde.Offensichtlich ein wenig verstimmt über den Mangel an Reaktion meinerseits, fuhr die Frau mit der quälenden Stimme fort: „Deinen Lehrling musst du bei Mandoos Verbrennung heute nach Sonnenuntergang wählen. Zwar ist es selbstverständlich aber ich werde es hier nochmal für dich erwähnen: Dein Lehrling muss ein Junge sein...", ich verdrehte innerlich die Augen, „... und die Ausbildungszeit beträgt genau ein Jahr. Nach Ablauf dieses Jahres wirst du das Amt des Heilers auf deinen Lehrling übertragen und von da an den Pflichten einer Frau nachgehen." Leise flüsterte jemand: „Wohl eher als Jungfrau sterben."

Plötzlich fiel alle Müdigkeit von mir ab und heiße Wut erfüllte mich. Ein Jahr? Ich hatte für meine Lehrzeit drei Jahre gebraucht, wie soll man jemandem in einem Jahr alles beibringen? Das war einfach unmöglich zu schaffen. Was wollte der Clan mit einem nur halb ausgebildeten Heiler? Was würde wohl passieren, wenn es ein Problem gab, welches ich leider nicht in der Ausbildung erwähnt hatte? Würden sie dann doch kurz auf mich zurückgreifen? Und mir dadurch erneut deutlich machen, dass ich in diesem Clan gerade mal als Spielfigur etwas taugte?

Der Göttin sei Dank, dass ich es erneut schaffte, meine Gefühle hinter einem, wie ich hoffte, würdevollen Blick zu verbergen. Ich musste jetzt nachdenken, alles in Ruhe durchgehen und dann einen Entschluss fällen. Das konnte ich aber nicht im Beisein des Rates oder von sonst jemandem machen, ich brauchte jetzt Ruhe. So nickte ich nur leicht und schritt passend zu meinem Gesichtsausdruck würdevoll aus dem Zelt und weiter bis zu meiner Blumenwiese.

Sobald meine Hände das weiche Gras berührten, war alle Zurückhaltung vergessen. Ich ließ meiner Wut freien Lauf und hämmerte auf die Wiese ein. Es war nicht lange nach Sonnenaufgang und das Gras war nass und hinterließ grüne Flecken auf meinen Knien und Händen. Doch ich spürte nichts, weder das nasse Gras, noch meine immer mehr schmerzenden Hände und erst recht nicht die Hand, die sich sanft auf meine Schulter legte.

Erst als plötzlich mein rechtes Handgelenk umfasst wurde und ich dadurch vom Einschlagen in den Boden abgehalten wurde, kam ich wieder zu mir. Ich hob meinen nach vorne gesunkenen Oberkörper so schnell und so kraftvoll wie ich konnte und stieß gegen den Gegner hinter mir. Wie zu erwarten, ließ dieser ein leises Stöhnen vernehmen. Flink zog ich meine Füße unter meinen Körper und brachte mich so in Hockstellung. Noch während ich meine Kräfte sammelte, um ganz aufzuspringen und den Gegner zu attackieren, wurde meine Hand losgelassen. Ich wirbelte herum und stand dabei auf, sodass ich mit einem Mal meinem Gegner gegenüber stand. „Vazal?!" rief ich aus. „Für eine Heilerin bist du ganz schön kämpferisch." sagte er sanft und rieb sich dabei die Stelle an seiner Brust, die ich wohl mit meinem Kopf getroffen hatte. Dem dumpfen Schmerz in meinem Hinterkopf nach zu urteilen, konnte er durch seine Muskeln kaum was gespürt haben.

Seufzend ließ ich mich auf den Boden fallen und zog meine Beine an mich heran, sodass ich sie mit den Händen umschlingen konnte. Vazal setzte sich mir gegenüber. „Was machst du hier?" fragte ich nach ein paar Augenblicken des Schweigens. „Ich wollte nach dir sehen. Du bist aus dem Zelt gestürmt und kurz danach kam der Rat heraus. Haben sie eine Entscheidung getroffen?" Mitfühlend sah Vazal mich an. „Sah ich so aufgebracht aus?" „Nein, das habe ich nur aus deiner Reaktion gerade geschlossen" beruhigte mich Vazal. Ich lächelte ihm zu.„Ja, sie haben eine Entscheidung getroffen. Ich soll heute Abend einen Lehrling bestimmt und ihn binnen eines Jahres zum Heiler machen." 

Vazal runzelte die Stirn. „Hast du nicht gesagt, dass du drei Jahre für die Ausbildung gebraucht hättest?" Verzweifelt hob ich die Arme und ließ sie dann kraftlos sinken. Es hatte einfach keinen Zweck, sich darüber aufzuregen. So sehr ich es auch versuchen würde, ich könnte mich nie gegen die Entscheidung des Rates stellen.

Wir schwiegen erneut, bis Vazal die Stille durchbrach: „Ich wollte mich noch bei dir entschuldigen." Erstaunt hob ich den Kopf. „Wofür?" „Ich war sechs, als dich die Jäger ins Lager brachten. Meine Mutter zog mich sofort von dir weg und sagte etwas, was ich dir gegenüber nicht wiederholen möchte. Als du größer wurdest, war es eine Art Spiel für uns Jungs, dich anzutippen oder umzuschupsen und dann wegzulaufen. Ich habe da auch mitgemacht. Es tut mir leid. Ich habe mit dazu beigetragen, dass du ausgeschlossen wurdest." Beschämt sah Vazal zu Boden und ich merkte, dass es ihm ehrlich leid tat. „Ich gebe niemandem persönlich die Schuld. Wer möchte sich schon gerne gegen die Meinung des ganzen Clans stellen."

„Nefet hat es getan." Als ihr Name fiel, fingen seine Augen an zu leuchten. „Ihre Leidenschaft mit der sie dich gegen alle verteidigte, imponierte mir." „Hat das dazu beigetragen, dass ihr euch in einander verliebt habt?" fragte ich. Verträumt zerrieb Vazal eine Blume in seinen Fingern: „Ja". Ich lächelte. „Nefet ist die beste Schwester, die man sich nur wünschen kann und du bist ihr ein guter Ehemann. Ihr werdet bestimmt ewig glücklich sein." Vazal grinste mich an. „Wünscht du dir das denn nie? Wenn du Heilerin bleiben würdest könntest du nie eine Familie gründen." „Ich glaube nicht, dass ich das könnte. Ob nun Heilerin oder nicht. Keiner würde es wagen, sich mit mir einzulassen. Und ich würde meine Kindern nicht den gleichen Demütigungen und Zurückweisungen aussetzen wollen, wie sie mir widerfahren sind." 

Ich lachte kurz ohne Humor. „Mein Name sagt es doch schon. Siela, die Verlorene. Ich war seit meiner Geburt verloren und werde es wohl mein Leben lang bleiben." Traurig sah Vazal mich an. Doch dies war eine Wahrheit, der ich mich schon vor langer Zeit gestellt hatte. Ich hatte sie akzeptiert.

Sintalis - Weiße RoseWo Geschichten leben. Entdecke jetzt