Haus Vazal

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„Siela, Siela! Wo bist du denn?" Mein Kopf schoss in die Höhe. Ich hörte, wie Nefet durchs Lager lief und Zeltplanen anhob. Mandoo deutete mit dem Kopf zur hinteren Wand seines Zeltes. Ich lächelte ihn entschuldigend und dankbar an und machte mich dann daran den Puder aus meinem Mörser in die dafür vorgesehene Schüssel zu kippen. Dann räumte ich Mörser und Stößel wieder an ihren angestammten Platz zurück und verließ das Zelt so leise wie möglich durch die Rückwand. Die angrenzenden Büsche boten mir genug Schutz, um ungesehen das Lager in Richtung Blumenwiese zu verlassen.

Leicht außer Atem ließ ich mich in das duftende Gras sinken. Meine Wiese war nicht groß, es hätten nur drei Zelte drauf gepasst, aber sie war schön mit langem, dichtem, duftendem Gras und einzelnen kleinen weißen, gelben und roten Blumen. Die vielen verschiedenen Farben boten ein wunderbares Bild. Ich warf mich auf den Rücken und betrachtete den strahlend blauen Himmel mit den weißen Wolken, die sich wie Schlieren über den Himmel zogen, und ich versuchte mich vollkommen zu entspannen.

„Siela! Du träumst doch nicht schon wieder vor dich hin, oder?", Nefet kam auf mich zugestürzt. Ihre langen, dichten, schwarzen Haare flatterten wie ein Umhang hinter ihr her. Ich richtete mich auf und betrachtete sie. In der Sonne glänzte ihre dunkle Haut wie ein Bernstein, vermutlich hatte Ais sie gerade erst eingeölt. Keuchend kam sie neben mir zum Stehen. „Hast du vergessen , was für ein wichtiger Tag heute ist?"

Natürlich hatte ich das nicht. Heute gingen Nefet und Vazal im Zeichen der Götter das Bündnis ein. „Du musst dich noch für die Zeremonie fertig machen, du willst doch bestimmt nicht so dort auftauchen." Ich stand auf und folgte ihr zu Nossans Zelt in der Mitte des Lagers. Nefet war sauer auf mich, ich kannte sie nun schon lange genug, um das von hinten an ihrem Gang zu erkennen. Im Grunde konnte ich sie verstehen, denn für sie musste es so aussehen, als hätte ich die ganze Zeit träumend auf der Wiese verbracht. Dass ich jedoch die Kräuter für ihre bevorstehende Zeremonie gestampft hatte, konnte sie schließlich nicht wissen.

In meinem Kopf machte ich einen Strich hinter die schon vorhandenen Striche. Es waren bestimmt schon hundert Stück, für jedesmal wo ich mir gewünscht hatte, mein Geheimnis jemandem verraten zu können. Tja, nur dass es eben nicht so einfach war, denn als Frau war es mir nicht erlaubt, Mandoos Lehrling zu sein, geschweige denn eine Heilerin. Auch wenn wir viele Göttinnen verehrten, gab es in unserem Clan nicht das geringste Recht für Frauen. Und generell war ich nicht beliebt genug im Clan, um eine Veränderung durchzusetzen.

Nefet und ich waren an dem größten Zelt im Lager angekommen. Es war zwar braun wie alle anderen, aber mit feinen Malereien von weißen Rosen, gelben Blumen, der Sonne und dem Mond verziert, sodass man sofort merkte, dass hier nur das Oberhaupt wohnen konnte. „Mutter? Ich habe Siela gefunden", rief Nefet in das schummrige Licht, das uns im Inneren empfing.

„Na endlich!" Ais eilte auf uns zu. Sie hatte sich schon für die Zeremonie entsprechend gekleidet, ein gelbes Kleid und einen weiten Schal umgehägt. Selbst im geflochtenen Zustand flossen ihre schwarzen, seidig glänzenden Haare den gesamten Rücken herab und bedeckten ihn vollkommen. Mit dem Kopf deutete sie zu meiner Waschschale und begann dann Nefets Haare zu flechten. Ich wusch mir mit dem eiskalten Wasser Gesicht und Arme und wandte mich dem Stapel auf meinem Lager zu.

Es war ein sonnengelbes, langes, ärmelloses Kleid, das bis zu meinen Hüften eng geschnitten war und sich wie eine zweite Haut an mich schmiegte. Ab der Hüfte floss es dann in Wellen bis zum Boden. Bei meiner Haut ergab es leider keinen so schönen Kontrast wie bei Ais mit ihrer dunklen Haut, oder wie bei allen anderen, die ich vor einer Zeremonie gesehen hatte.

Das Gelb sollte die Göttin der Sonne ehren, Sona wie wir sie nannten. Die Göttin der Sonne war der Ursprung allen Lebens hier auf der Erde. Sie war unsere höchste Göttin und durfte daher auf keiner Zeremonie fehlen. Die weißen Blüten und das weiße Kleid von Nefet stellten Sinta, die Göttin der Reinheit dar. Sie war die Göttin der Blumen und der Heilung. Aus einer ihrer Blumen wurde unsere Göttin Assoluma geboren, die Göttin der Fruchtbarkeit und Schutzgöttin der Liebenden. Das weiße Kleid symbolisierte die reine Frau, die einen Bund mit einem Mann eingeht und hoffentlich mit Kindern beschenkt wird.

Die Zeremonien wurden immer nur im engsten Kreis der Familie gefeiert, weswegen dies meine erste Zeremonie war. Außer den Familienmitgliedern durfte nur noch das Oberhaupt anwesend sein, um das Bündnis zu schließen, und der Heiler, der mit seinen Kräutern dafür sorgte, dass keine bösen Geister der Zeremonie beiwohnten.

Als Ais mit Nefets Frisur fertig war, drehte sich Nefet zu mir um. „Du siehst wunderschön aus. Vazal wird seinen Augen nicht trauen, wenn er dich sieht", bewunderte ich sie. Nefets Lächeln verriet mir, wie viel der Anspannung ich ihr damit genommen hatte, dabei hatte ich nur die Wahrheit gesagt. Ihr langes weißes Kleid mit dem selben Schnitt wie meines bildete einen wunderschönen Kontrast zu ihrer dunklen Haut und auch die weißen und gelben Blumen in ihrem Haar passten zu ihr.

„Jetzt du! Nun komm schon!" Ais drückte mich auf einen Stuhl und flocht nun auch mir die Haare, allerdings nur mit gelben Blüten, die sich kaum von meinem blonden Haar abhoben. Abschließend betrachtete sie nochmal ihre Arbeit bei Nefet und mir: „Was hab ich nur für schöne Töchter". Auch wenn Ais nie einen Unterschied zwischen uns gemacht hatte, war es für jedermann ersichtlich, dass ich nicht Ais und Nossans Tochter war, sondern nur ein Findelkind, welches sie vor dem sicheren Tod in der Wildnis und den Mordversuchen des Clans gerettet hatten. Ich blickte an meinem Kleid herunter. Das war wahrscheinlich das Schönste, was ich je angehabt hatte. Wie schon tausendmal zuvor stellte ich mir vor, was wohl meine leibliche Mutter sagen würde.

Ais gab uns beiden einen Kuss auf die Stirn und vertrieb damit meine traurigen Gedanken. Zusammen mit Nefet, die nun an der Spitze ging, traten wir nach draußen, wo schon fast der ganze Clan versammelt war um einen Blick auf Nefet zu erhaschen. Die „Oh" und „Ah" Rufe folgten uns bis zur Höhle. Alles war so abgestimmt, dass genau in dem Moment, in dem die Zeremonie begann, die sinkende Sonne die Höhle in rötliches Licht tauchte.

Wir waren die letzten, die eintrafen. Wie ich es vorhergesehen hatte, war Vazal bezaubert von Nefets Erscheinung. Ich freute mich für Nefet, denn der groß gebaute Mann mit den mittellangen schwarzen Haaren liebte sie von ganzem Herzen. Beide hatten sich wahnsinnig gefreut, als Ais und Nossan nach etlichen Diskussionen, dem Bündnis doch noch zugestimmt hatten. Jetzt strahlten die beiden vor Glück und Liebe.

Nossan begann die Zeremonie mit einer Rede: „ Ich, Nossan, das Oberhaupt dieses Clans heiße euch herzlich willkommen. Wir haben uns hier versammelt, weil Vazal, aus dem Hause Donas...", der Vater von Vazal neigte kurz den Kopf, „... und Nefet, aus dem Hause Nossans, heute hier ein Bündnis eingehen wollen. Zu diesem Anlass möchte ich den Gott Sangol, dich, den Vater aller Götter, bitten, auf diese beiden jungen Häupter herab zu schauen und über sie zu wachen und sie zu beschützen wie ein innig liebender Vater. Auch dich, Göttin Assoluma, die Tochter Sangols, die Leben schenkt, möchte ich bitten, über diese beiden innig Liebenden zu wachen und ihnen viele Kinder zu schenken." Nossan hob beide Hände und legte sie flach auf die Köpfe von Nefet und Vazal, um zu zeigen, dass auch die Götter ihre Hand über sie hielten.

„Das Haus Dona, ich frage euch jetzt nur einmal, stimmt ihr diesem Bündnis zu?" Vazals Vater, seine Mutter und sein Bruder antworteten einstimmig mit „Ja" und legten jeder erst Vazal kurz eine Hand auf die Schulter und dann Nefet. Da Nossan sich schlecht selbst fragen konnte sprang Mandoo für ihn ein: „Und ihr Haus Nossan, stimmt ihr diesem Bündnis zu?" „Ja". Ich hörte wie Ais' und meine Stimmen in Nossans durchdringendem „Ja" untergingen. Dann legten erst Nossan und Ais ihre Hände auf Nefets und Vazals Schultern, dann war ich an der Reihe. Ich wusste, dass meine Hand kalt war, weswegen es nicht weiter verwunderlich war, dass Nefet unter meiner Berührung zusammenzuckte. Aber dass Vazal auch zusammenzucken würde, hätte ich nicht gedacht. Beide waren erhitzt, trotz der dünnen Kleidung und der immer näher rückenden Nacht.

Ich sah wie Mandoo die Kräuter, die ich gerade erst gestampft hatte, anzündete. Sofort stieg dichter weißer Rauch aus der Schüssel in seiner Hand. Er trat vor und ging dann langsam um Nefet und Vazal herum und hüllte sie mit dem reinen weißen Rauch ein. Dabei sprach er in einer Dauerschleife mit leiser rauer Stimme: „Weißer Rauch, reinige, behüte, schenke. Reinige ihren Geist, sodass kein böser Keim in ihnen Wurzeln bilden kann. Behüte sie vor allen Geistern, die sich ihnen nähern mögen und schenke Klarheit und Frieden ab jetzt bis in Ewigkeit".

Die Höhle begann sich langsam mit Rauch zu füllen, bis man nichts mehr sah. Trotzdem konnte ich noch schemenhaft erkennen, wie Vazal sich zu Nefet herüberbeugte und ihr einen langen Kuss gab. Mein Herz wollte zerspringen vor Freude und Glück, die ich für Nefet empfand. Abrupt brach Mandoo mit seinem Gemurmel ab. „Ich erkläre euch nun zu einer Familie, zum Hause Vazals. Möge euch eine lange Zeit hier auf Erden vergönnt sein, die ihr hoffentlich nicht alleine verbringen müsst." Damit schloss Nossan die Zeremonie und wir alle strömten nach draußen. Als Nefet und Vazal Hand in Hand an mir vorbeigingen, hielt ich Nefet am Arm zurück.

Sie lächelte mich an und ich gab ihr einen Kuss auf jede Wange. „Ich wünsche euch von ganzem Herzen Glück." Nefet antwortete mit einem überwältigenden Lächeln, wurde dann jedoch von Ais beansprucht, bevor sie etwas sagen konnte. Die Sonne war nun untergegangen und alle Beteiligten zogen sich wieder in ihre Zelte zurück. Nefet und Vazal zogen in ihr eigenes Zelt, welches sie über Monate hinweg selbst angefertigt hatten.

Ich erklärte Nossan und Ais, dass ich mich nach so einem emotionsreichen Tag gerne nochmal auf meine Wiese zurückziehen wolle, schlich mich dann aber kurz vor der Wiese in Mandoos Zelt. Der Heiler wartete bereits auf mich und begrüßte mich mit einem Lächeln. Ich setzte mich ihm gegenüber und er sah mich ernst an. "Du lernst jetzt schon drei Jahre heimlich bei mir und mit der heutigen Zeremonie weißt du nun alles, was ein Heiler wissen muss. Jetzt kann ich dir nichts mehr beibringen. Deine Lehrzeit ist hiermit vorbei, du bist ab jetzt eine ausgebildete Heilerin und kannst als solche im Clan aufgenommen werden."

Angst durchflutete mich. Panische Angst. Ich sollte vor den Clan treten und gegen ihre Traditionen handeln? Ich, die wahrscheinlich unbeliebteste Person im Lager? Alles in mir weigerte sich.

Sintalis - Weiße RoseWo Geschichten leben. Entdecke jetzt