Kapitel 66

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Ich werde mitten in der Nacht wach, weil ich mich komisch fühle. Ich stehe auf, um auf die Toilette zu gehen. Mir fällt auf, dass in meinem Slip ein bräunlicher Schleim ist und ich werde unruhig. Meine Hebamme hat von einem Schleimpfropf geredet, der sich kurz vor der Geburt löst. Er soll durchsichtig bis bräunlich sein und da ich seit meinem letzten Krankenhausaufenthalt keinen Ausfluss mehr hatte, beunruhigt mich das ein wenig. Was ist, wenn das wirklich dieser Pfopf ist? Ich bin in England, Lucian in Russland. Ich kann jetzt nicht entbinden. Mir wird bewusst, dass ich noch immer nicht auf der Toilette fertig bin, obwohl ich das Gefühl habe, dass meine Blase leer ist. Ich versuche das Töpfeln aufzuhalten, doch auch wenn ich meinen Schliesmuskel völlig anspanne, hört es nicht auf. "Scheiße.", sage ich, als mir klar wird, dass das meine Fruchtblase sein muss. Ich nehme mir eine dicke Slipeinlage, die ich in meinen Slip klebe. Unruhig stehe ich von der Toilette auf und drücke auf die Spültaste. Das darf doch jetzt nicht wahr sein. Schnell wasche ich meine Hände und gehe zurück in mein Zimmer. Während ich mir mein Handy schnappe und die Nummer meiner Hebamme wähle, schlüpfe ich in eine Leggings und ziehe mir ein Sweatshirt über. "Hallo?", höre ich eine verschlafene Stimme. Ich seufze erleichtert. "Lina? Ich bin es, Charlotte. Ich glaube, dass meine Fruchtblase geplatzt ist.", sage ich und setze mich in den Sessel um mir Socken anzuziehen. "Okay, in Ordnung. Aus welchem Grund denkst du, dass sie geplatzt ist?", fragt sie und wirkt nun hellwach. "Ich war auf der Toilette. Entweder bin ich jetzt völlig inkontinent und mein Schließmuskel hat mich verlassen oder es ist die Fruchtblase. Außerdem hatte ich diesen bräunlichen Schleim in meinem Slip, von dem du geredet hast.", erkläre ich ihr. Fertig angezogen lehne ich mich zurück, weil das schon wieder furchtbar anstrengend war. "Okay, das klingt sehr eindeutig. Hast du schon Wehen?" Ich verneine ihre Frage. "Gut. Ich schlage vor, dass du dir deine Tasche schnappst und dich langsam auf den Weg ins Krankenhaus machst. Keine Eile." Ich lache. "Das ist nicht so einfach." Nervös fasse ich mir an die Stirn. "Ich bin in England. Lucian in Russland. Ich bin bei meinem Eltern zu Besuch.", wieder lache ich und nun klingt es fast schon hysterisch. "Okay. Das ist etwas, womit ich gerade nicht gerechnet habe. Gut, ich muss einen Moment nachdenken.", sagt sie und es ist still. "Wäre es möglich, dass du mit einem Privatjet zurückfliegen kannst? Wenn du noch keine Wehen hast, kann es manchmal noch einen halben Tag dauern, bis es richtig losgeht.", "Der Jet ist in Russland bei Lucian. Aber ich werde Richard fragen, ob es eine Möglichkeit gibt. Ich muss nach Hause. Ich kann doch nicht in einem fremden Land entbinden. Ich nicht." Lina versucht mich zu beruhigen und als ich endlich wieder bei klarem Verstand bin, legen wir auf, damit ich mich um  eine Heimreise kümmern kann. Ich schlüpfe in meine Hausschuhe und verlasse mein Zimmer. Ich darf jetzt keine Zeit verlieren. Jede Minute könnte zählen. "Jason!", rufe ich und reiße die Zimmertür meines Bruder auf, da diese direkt neben meiner ist. "Charly? Was zum Teufel soll das?", fragt mein Bruder verschlafen. Maria knipst die Lampe auf dem Nachttisch an und sieht zu mir. "Meine Fruchtblase ist geplatzt. Ihr müsst mir helfen, so schnell wie möglich nach Hause zu kommen.", erkläre ich. Maria und Jason sehen einander an, dann springen sie gleichzeitig aus dem Bett. "Du versuchst Lucian zu erreichen, ich renne zu Richard.", sagt sie zu Jason und rennt los. Mein Bruder kommt zu mir und legt seinen Arm um mich, während er sein Handy ans Ohr hält und versucht, Lucian zu erreichen. "Geht nicht ran.", murmelt er und versucht es erneut. "Ist es schlimm? Schaffst du es überhaupt bis nach Hause?" Ich nicke. "Meine Hebamme Lina meint, dass es gehen könnte." Wir gehen langsam die Treppe nach unten, wo Richard bereits das Telefon am Ohr hat und mit irgendwem redet. "Ich gehe deine Sachen packen.", sagt Maria und läuft wieder nach oben. Nun kommt auch Percy in den Flur. Er ist bereits angezogen und auch er telefoniert. "Ich habe ein Flugzeug organisieren können. In einer Stunde steht es bereit.", sagt er zu Richard. "Wir können Lucian nicht erreichen.", sage ich ihm. "In Ordnung, ich versuche, seine Sicherheitsleute zu erreichen.", antwortet Percy und schon telefoniert er wieder. Mit wem Richard spricht, kann ich nicht sagen. Meine Eltern kommen auch in den Flur. "Was ist denn hier los?", fragt Dad. "Meine Fruchtblase ist geplatzt. Wir versuchen gerade eine Möglichkeit zu finden, nach Hause zu kommen.", sage ich kleinlaut. Diese Situation überfordert mich völlig. Moms Augen weiten sich. "Himmel. Mitkommen und hinlegen. Wenn du jetzt noch so viel herumstehst, wirds nur schneller gehen." Sie legt ihren Arm um mich und bringt mich ins Wohnzimmer. "Nur die Ruhe, Spätzchen, wir kriegen dich schon nach Carwona.", redet sie sanft auf mich ein. Auch ihr ist bewusst, wie wichtig es ist, dass ich in Carwona entbinde. "Ich mache dir einen Tee." Sie geht und kommt wenig später mit einer Tasse heißem Tee zurück. Auch Richard kommt ins Wohnzimmer. "Wir konnten einen Privatjet buchen und haben Flugerlaubnis. In einer halben Stunde fahren wir los." Ich nicke. "Und Lucian? Weiß er bescheid?" Richard seufzt. "Bisher konnte ich niemanden erreichen. Aber wir bleiben dran." Wieder nicke ich. Lucian hatte die ganze Zeit Angst, er könne die Geburt verpassen. Und ich habe behauptet, dass das niemals passieren wird. Und nun sitze ich hier. Und er dort. "Mom?", frage ich leise. Sie sieht mich an. "Ich habe so eine Scheißangst." Sie verzieht traurig das Gesicht und nimmt mich in den Arm. "Immer schön den Kopf oben lassen du wirst es rechtzeitig zurück nach Carwona und auch ins Krankenhaus schaffen." Sie sieht mich eindringlich an und ich nicke. "Gut. Zähne zusammenbeißen. Das hier wird kein Zuckerschlecken. Egal ob du auf natürliche Weise entbindest oder einen Kaiserschnitt bekommst. Beides wird der horror, da brauche ich dich gar nicht anzulügen. Aber das alles hat einen Zweck und sobald du die Kinder in deinen Armen hälst, wirst du merken, dass sich all der Ärger und all der Schmerz gelohnt hat." Wieder nicke ich, dann steht Percy in der Tür. "Wir können los. Ist alles in Ordnung?" Ich nicke und stehe schwerfällig auf. Ich habe nicht damit gerechnet, dass es jetzt schon losgeht. Ich bin darauf nicht vorbereitet. "Oh, ich habe ganz vergessen meine Hebamme nochmal anzurufen.", "Schon erledigt. Du brauchst dich um nichts zu sorgen. Der Jet steht bereit, die Flugerlaubnis ist erteilt, deine Hebamme weiß bescheid und kommt ins Krankenhaus, das Krankenhaus weiß bescheid und ein Krankenwagen steht am Flughafen bereit. Nur Lucian konnte ich noch nicht erreichen. Aber ich bleibe dran." Lächelnd gehe ich zu ihm, um ihn zu umarmen. "Danke, Percy." Ich löse mich von ihm, um mich von meiner Mom zu verabschieden. "Halt die Ohren steif. Und melde dich, wenn du gelandet bist. Oder jemand anders soll sich melden, wenn du nicht kannst." Ich gebe ihr mein Wort, dann sage ich noch Jason, Dad und Maria tschüss. Maria wird noch bleiben, weil sie sonst kaum etwas von Jason hatte. Ich hätte auch niemals von ihr verlangt, dass sie mich begleitet. Ich gehe raus zum Wagen und steige ein. Wir fahren sofort los und ich bin froh, dass ich so ein tolles Team habe. Percy ruft weiterhin nacheinander Lucian und all seine Securitys an. Aber erst kurz bevor wir am Flughafen ankommen, geht Lucian ans Telefon. "Oh Gott sei Dank, endlich erreichen wir dich. Einen Moment, ich gebe dir Charlotte.", sagt Percy plötzlich. Ich strecke meine Hand aus, um ihm sein Handy abzunehmen. "Lucian?", frage ich. "Liebling, was ist los? Ich habe ungefähr tausend Anrufe auf meinem Handy. Ist irgendwas passiert?", fragt er aufgebracht. "Naja, passiert... kann man so sagen.", gebe ich kleinlaut zu. "Was ist los? Rede mit mir." Ich seufze. "Wie es aussieht, ist meine Fruchtblase geplatzt." Am anderen Ende ist erst Stille, dann raschelt es so laut, dass ich kurz das Handy weghalten muss. "Wie ist der Plan? Wo muss ich hinkommen? Ich sehe zu, dass der Jet startklar gemacht wird. Wenn alle sich beeilen, bin ich in ein paar Stunden bei dir." Er klingt gehetzt und es raschelt immer wieder, sodass ich davon ausgehe, dass er sich gerade anzieht. "Richard und Percy haben einen Privtjet organisiert. Ich habe noch keine Wehen, also wäre es möglich, dass wir es rechtzeitig bis ins Krankenhaus schaffen. In Carwona wird dann ein Krankenwagen auf mich warten, damit wir keine Zeit verlieren. Wir steigen gleich ins Flugzeug.", fasse ich kurz zusammen. "Gut. Ich versuche mich zu beeilen." Er atmet kurz durch. "Ich kann nicht versprechen, dass ich rechtzeitig-", "Schon gut. Komm nur so schnell wie möglich. Niemand macht dir einen Vorwurf, wenn du nicht ganz rechtzeitig da bist.", schneide ich ihm das wort ab. Er seufzt. "Ich liebe dich, Lotti. Halte durch, ja? Ich bin bald bei dir, Liebling." Ich nicke, obwohl Lucian das nicht sehen kann. "Ich liebe dich auch. Bis später." Wir legen auf und im selben Moment bleibt das Auto stehen. "Gut, lass uns schnell in den Flieger steigen.", sagt Percy und nimmt sein Handy zurück. Ich steige aus dem Auto und gehe die Treppe hoch zum Eingang des Flugzeuges. Stewardess und Pilot begrüßen mich aber ich gehe sofort nach hinten durch, um mich wieder hinzusetzen. Ich sollte keine Panik haben aber es lässt sich nicht vermeiden. Percy setzt sich mir gegenüber und lächelt aufmunternd. Der Flieger setzt sich in Bewegung und wenige Minuten später sind wir in der Luft. Kaum bekommen wir das Zeichen, dass wir uns abschnallen dürfen, Spüre ich starke Schmerzen im Unterleib das bis zu einem Ziehen im Rücken über geht. Ich stöhne auf und Percy verzieht das Gesicht. "Es tut mir so leid, dass das so für dich läuft.", sagt er mitleidig. "Schon in Ordnung. Wann werden wir landen?" Percy sieht auf seine Uhr. "In einer Stunde unten zweiundvierzig Minuten.", antwortet er. Okay. Das schaffe ich locker. War ja nur eine kleine Wehe. Eine einzige. Meine Sorge ist eher, dass Lucian nicht da sein wird. Sein Flug wird länger dauern als meiner. Aber mit etwas Glück wird er rechtzeitig da sein. Die Hoffnung stirbt zuletzt. "Ich werde die Zeit im Auge behalten, falls im Krankenhaus nach den Abständen der Wehen gefragt wird. Dann brauchst du dich um nichts kümmern. Ich nehme dir alles ab, was ich kann." Ich sehe zu Percy. "Danke. Ich weiß nicht, was ich ohne dich tun würde."
Etwa fünfzig Minuten später habe ich eine zweite Wehe und während der Landung eine dritte. Ich muss mich wieder übergeben, was meinen Körper diesmal völlig auslaugt. Mit Percys Hilfe stehe ich auf und verlasse das Flugzeug. Draußen steht bereits der Krankenwagen und zwei Sanitäter helfen mir beim Einsteigen. "Möchten Sie sitzen? Oder lieber liegen?" Ich sehe die Trage an, die alles andere als bequem aussieht. Außerdem ist es noch nicht allzu schlimm. Wäre ich Zuhause gewesen, als meine Fruchtblase geplatzt ist, hätte ich mich vermutlich jetzt erst langsam auf den Weg gemacht. Ich hätte nicht eine solche Panik gehabt. "Ich möchte bitte sitzen.", murmle ich. Ich nehme also Platz und schnalle mich an. Die Fahrt zum Krankenhaus ist holprig und ich nutze die Zeit, um meiner Mom bescheid zu geben, dass ich gelandet bin und gleich im Kreissaal ankommen werde. Außerdem schreibe ich noch dazu dass die Wehen eingesetzt haben, die Abstände aber zum Glück noch sehr groß sind und ich somit tatsächlich Hoffnung habe, dass Lucian rechtzeitig da sein wird.
Angesichts der Tatsache, dass die Wehen tatsächlich so große Abstände haben, ist es lächerlich, dass ich mit einem Krankenwagen zum Keissaal gebracht werde. Als wir dort ankommen, sind auch schon Percy, Richard und weitere Sicherheitsleute vor Ort und ich ärgere mich, dass ich mit dem holprigen Krankenwagen gefahren bin, anstatt mit dem bequemen SUV. Mein Rücken dankt es mir.
Im Kreissaal melde ich mich an und sofort sind die Schwestern dort fürchterlich nervös. Sie wussten, dass ich kommen würde, aber offensichtlich war es für sie erst jetzt so wirklich Realität. Mir wird ein Zimmer zugeteilt und die Schwester, die mich dorthin begleitet, hat einen so roten Kopf, dass ich Sorge habe, sie könnte platzen vor Scham oder Nervosität. Was genau in ihr vorgeht, kann ich natürlich nur raten. "Machen Sie es sich bequem und sagen Sie gerne Bescheid, wenn Sie etwas brauchen. Frau Doktor wird gleich zur Untersuchung kommen." Ich nicke. "Ist meine Hebamme schon hier?" Sie schüttelt den Kopf, räuspert sich dann verlegen. "Nein, Majestät, tut mir leid.", ergänzt sie verlegen. Oh man. Ich seufze und setze mich auf das Bett. Mir ist kalt und ich habe das Bedürfnis, mich unter die Decke zu legen. "Sie können einfach auf diesen Knopf drücken, wenn etwas ist." Ich nicke erneut und sie geht. Als die Tür zu ist, Hilft Percy mir, mich vernünftig auf das Bett zu legen und zuzudecken. Ich bin jetzt schon völlig fertig, dabei hat eigentlich noch gar nichts so richtig begonnen. Wir schweigen einige Minuten vor uns hin, dann kommt die Ärztin endlich. Sie macht einen Ultraschall, schaut nach, wie weit mein Muttermund geöffnet ist und dann werde ich an einen Wehenschreiber angeschlossen. "Gut, also reden wir Klartext. Eine natürliche Geburt ist nicht möglich. Beide Kinder liegen nicht in der richtigen Position. Außerdem sind sie erst in der einunddreißigsten Schwangerschaftswoche. Wir können die Wehen nicht mehr stoppen, also werden wir die Kinder heute mit einem Kaiserschnitt holen müssen. Kinderärzte werden anwesend sein, damit beide Kinder sofort ärztlich versorgt werden können. Sie kommen auf eine Frühchenstation und werde noch eine Weile im Inkubator liegen müssen, bis sie weit genug entwickelt sind, dass sie nach Hause können. Das Mädchen macht mir ein wenig Sorgen, weil es viel kleiner zu sein scheint. Aber wir kriegen das schon hin." Ich nicke seufzend. Ich habe ja mit alledem gerechnet aber es ist trotzdem angsteinflößen. Ich hätte auch gerne normal entbunden. "In Ordnung. Wir werden dann alles für den Kaiserschnitt vorbereiten und -", "Nein, Moment.", unterbreche ich sie entsetzt. "Wir müssen noch warten. Mein Mann sitzt im Flieger, er ist noch nicht hier. Ich kann nicht entbinden, bevor er nicht hier ist." Die Ärztin seufzt. "In Ordnung, wir können warten. Aber nicht zu lange." Sie lächelt, dann steht sie auf und verlässt das Zimmer. "Wann ist Lucians Flieger gestartet?", frage ich nervös. Percy seufzt. "Vor einer halben Stunde erst. Sie haben vorher keine Starterlaubnis bekommen." Halbe Stunde. Dann ist er frühstens in drei Stunden am Flughafen. Wenn sie sich beeilen, brauchen sie hierher nur eine viertel Stunde. Ich atme tief durch. "Okay. Das schaffe ich. Beine zusammenkneifen." Percy mustert mich mitleidig. "Sieh mich nicht so an. Wie lange ist die letzte Wehe her?" Percy schaut auf seine Uhr. "Achtundzwanzig Minuten." Bis die nächste kommt, sind wieder gut zwanzig Minuten um. Wir schaffen es locker, auf Lucian zu warten. Dachte ich jedenfalls, denn als der Gedanke vorbei ist, kommt die Wehe und mir wird klar, dass der Abstand plötzlich zwanzig Minuten kürzer ist.

Sei meine KöniginWhere stories live. Discover now