VIER - ER

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Der Torwart und mich trennen 11 Meter.

Eine räumliche Entfernung, die zwischen Sieg oder Niederlage entscheiden wird.

Ich hole tief Luft und mir fällt wieder ein, was uns der Coach beim letzten Training erzählt hat beziehungsweise die ganze Zeit mit seinen Statistiken vollgelabert hat.

Jede vernünftige Fussballmannschaft weiss über ihre Gegner in allen Details Bescheid, dazu zählt natürlich auch die Elfer Statistik. Dabei werden die Torjäger mit Fakten gegenübergestellt.

Es wird heiss darüber diskutiert, welcher von denen treffsicherer ist.

«Lass den Torwart zappeln. Wenn du zu früh zögerst, übernimmt er die Führung. Hast du kapiert?», höre ich den Coach vor meinem geistigen Ohr sprechen.

Und ja, er ist noch bei mir. Der Coach motiviert mich jeden Tag, meine Arbeit auf dem Feld gutzumachen. Ich habe die ganze Zeit das Gefühl, dass er mich beobachtet.

Die Stollen meiner Fussballschuhe graben sich bestimmt schon in die Erde. Gleich schlage ich wirklich noch Wurzeln hier.

«Worauf wartest du noch?», zischt der Torwart genervt. Ich weiss, dass er mich aus der Reserve lockt, mich einfach provozieren will.

Es heisst nicht ohne Grund, dass Geduld eine Tugend ist. Und das gehört definitiv zu meinen Stärken. Ich halte noch einen Moment inne, laufe an und schiesse den Ball in die obere Torecke.

Ein unbeschreibliches Glücksgefühl breitet sich in mir aus und ich juble. Laut und begeistert.

Zahlreiche Blicke spüre ich auf mir, wie sie mich verwundert und verärgert anstarren.

Aufgrund der unbeschreiblichen Freude steigt augenblicklich eine Hitzewelle in mir hoch. Und alles andere fällt von mir ab. Es gibt kaum ein grösseres und verlässlicheres Glücksgefühl, wenn der Ball hinter die Torlinie rollt.

Glaubt mir, ein Tor zu schiessen, das letzte Tor und zugleich das Siegtor, ist einfach unglaublich. Ich vergesse alles um mich herum.

Im Nachhinein weiss ich nicht, wie viel schnell die Zeit vergangen ist, als mein Team urplötzlich um mich herumstanden und voller Euphorie „Wir sind Meister." schrien.

«Wir sind Meister!», murmle ich leise vor mich hin.

«Wie bitte?»

Ich schlage die Augen auf und finde mich in einem hellen Raum wieder.

«Bleib bitte still, ja?»

«Mhmm», erwidere ich widerstandslos.

Dann spritzt mir die Frau routiniert ein Mittel. Die Flüssigkeit läuft heiss durch meine Venen.

Ich frage mich, ob sie die Verzweiflung in meinen Augen lesen kann. Zwar erkenne ich das Gesicht nicht...aber ich muss zugeben, dass ihr herzförmiges Gesicht mich an irgendeinen dürren Engel erinnert, Flügel hin oder her.

«Bist du ein Engel?»

Ihre Wangen färben sich rot.

«Welche Drogen hast du mir denn gottverdammt gegeben?»

Vielleicht kann ich irgendwie gegen deren Auswirkung ankämpfen, wenn ich nur wüsste, was die Frau mir in meine Vene eingeflösst hat.

«Du bewegst dich gar nicht mehr, denn wir beginnen jetzt mit dem MRT.»

Wie gesagt, Geduld gehört zu meinen Stärken. Ich weiss, dass Geduld eigentlich eine Tugend ist, doch diesmal ist sie eher von Nachteil.

Irgendwie fühlt sich mein Körper eigenartig an. Ich spüre das kalte Metall unter meinem Rücken und versuche die Augen aufzumachen, was nur mühsam gelingt. Zugleich schiesst mir unglaubliche Hitze, fast schon wie Feuer, ins Gesicht.

Aber warum musste dieses verfluchte Ding so laut sein? Wie lange muss ich hier drin noch bleiben?

Die Angst breitet sich aus. Eingesperrt zu sein und nicht zu wissen, warum, macht mich fast wahnsinnig.

«Ich will hier raus, ich will hier raus, ich will hier raus.», schreie ich voller Verzweiflung und hoffe so sehr, dass diese Qual bald ein Ende findet.

Ich hasse es, machtlos zu sein. Und ich hasse es, mich kampflos zu ergeben. Wieder und wieder schreie ich dieselben Sätze, aber sie ignorieren mich.

Daraufhin trete ich gegen die Wand, schlage dagegen, bis sich das Weiss rot färbt, ich fühle nichts, ich schlage und trete bis mir die Kraft ausgeht.

Hoffentlich hat das alles bald ein Ende....

Ich wippe ungeduldig mit den Füssen.

Irgendwie passt es mir gar nicht, dass sowas ausgerechnet jetzt kommen muss und alles durcheinanderbringt.

Ich drehe noch durch.

«Bitte, hol mich hier raus.», flehe ich förmlich.

Die Metallkonstruktion quietscht und setzt sich in Bewegung. Endlich!

Ich blicke auf und sehe die Frau vor mir stehen. Sie wirft einen kurzen, wie ich finde, missbilligenden Blick auf mich, bevor ich etwas sagen kann, beugt sie sich bereits wieder vor mich und spritzt mir schon wieder etwas.

Ich kann mich nicht dagegen wehren und möchte, dass sie damit aufhört.

Reiss alles ab, sagt mir mein Kopf. Reiss das verdammte Zeug runter. Doch mein Körper gehorcht nicht. Er ist zu schlaff und ruht zu bequem auf dieser kalten Metallplatte.

Meine Augenlider beginnen zu zucken und ich weiss, dass es schon wieder passiert. Ich verfalle in eine Art Trance, eine Trance, die mich voller Erinnerungen durchflutet.

Augenblicklich stehe ich wieder auf dem Fussballplatz und es ist kalt. Eiskalt.

BEFORE YOU SAY GOODBYE | 🇩🇪حيث تعيش القصص. اكتشف الآن