DREIUNDSECHZIG - ICH

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Das Leben steckt voller Überraschungen. Ich hatte überhaupt keinen Grund, so nervös und gestresst zu sein. Mit einem vorgefassten Urteil in der Tasche bin ich an die Sitzung gegangen.

Ich hätte mit allem gerechnet, dass Parker oder Mia mich anschreien würden oder noch besser mir den Boden unter den Füssen wegziehen, sodass ich zurück in die Schweiz muss und sozusagen mein altes Leben neu aufzubauen.

Wahnsinn! Ich war so voreingenommen.

Und jetzt bin ich erleichtert, nein noch besser, ich bin so froh und unendlich dankbar, dass ich auf ein solches Team zählen kann.

Die Mitarbeiter von Paper Heart halten mir den Rücken nicht nur frei, sie stärken mir ihn sogar. Mit neugewonnener Energie kann ich mein Problem an der Wurzel packen und durchstarten.

Bevor ich loslegen kann, will ich ihn sehen. Louis, mein Louis. Ach, das hört sich wie Musik in den Ohren an.

Also bin ich wie eine Wahnsinnige durch die Stadt gerast, keine Panik vor der Titanic, ich bin gefahren worden. Ein indischer Taxifahrer hat mich vorbeilaufen sehen und sagte bloss «Na-Mas-te». Zuerst dachte, ich hätte ihn «na was machste» sagen hören und blieb abrupt stehen.

«Du kannst Deutsch sprechen?», erkundige ich mich.

Er verneint und meint, dass er Verwandte in Deutschland hätte, allerdings noch nie dort zu Besuch war.

«Bist du Deutsche?»

«Ja, das bin ich!», flunkere ich. Meine Eidgenossen würden mich auf der Stelle köpfen. Im Ausland denken fast alle, wenn man sagt, dass man aus der Schweiz käme, automatisch ein fettes Bankkonto und einen Ferrari vor der Tür hätte. Ohja! Ich habe noch etwas vergessen. Selbstverständlich käme ich dann auch aus Zürich, Interlaken oder Bern. Die anderen Städte oder Dörfer existieren in der Schweiz nämlich nicht. Aber hey, was solls?

Jetzt will ich nur noch zu ihm.

«Bist du gerade frei, ich muss nämlich dringend ins Krankenhaus?»

«Yeah, sure.»

Ich bin verdammt schnell über den Vorplatz gelaufen und ins Krankenhaus gestürmt. Vor dem Zimmer verschnaufe ich noch ein bisschen, bevor ich dann an seine Tür klopfe.

Louis reagiert nicht auf mein Klopfen und ich versuche es eine Weile später nochmals. Nichts. Das kann doch nicht wahr sein. Er müsste doch in seinem Zimmer sein.

Ich trete ein und es trifft mich wortwörtlich der Schlag. Er ist nicht da. Verdammt, wo steckt er bloss?

Sofort renne ich ins Schwesterzimmer und rufe um Hilfe. «Was ist denn los?», fragt die einzige Pflegerin, die gerade dort ist. «Ja, Louis ist weg!»

«Der verwindet eh immer wieder. Mach dir keine Sorgen.»

«Ich soll mir keine Sorgen machen? Hallo?!»

Stattdessen lehnt sie sich zurück und trinkt genüsslich ihren Kaffee. Ich könnte ihr den Hals umdrehen! Ich könnte sie erwürgen!

Stattdessen nimm ich mein Handy zur Hand und wähle Clarys Nummer. Da kommt nur die Combox! So ein Mist, aber auch!

Immer dann, wenn man jemand ganz dringend braucht, ist derjenige nicht da.

Urplötzlich sagt mir mein Bauchgefühl, dass hier was faul ist. Ich muss Louis finden. Und zwar schleunigst, bevor noch etwas Schlimmes passiert.

Ich bin schnell zum Aufzug gerannt und habe die oberste Etage mit der Terrasse gewählt. Wenn ich Glück habe, wird Louis bestimmt in der Hängematte liegen. Clary hat mir davon erzählt, dass die Terrasse sein absoluter Lieblingsort wäre. Louis und Simon hätten stundenlang hier verbracht.

Ich bin noch nie hier oben gewesen.

Die Aufzugstüren gehen auf und habe einen freien Blick auf die Terrasse. Und da sehe ich ihn durch die Glastüre.

Er will doch nicht ....

Panische Angst überkommt mich, öffne die Türe und renne los.

«Lou-isssssss, was machst du da?! Mach bitte keine Dummheiten! „krächzte ich mit angeschlagener Stimme.

«Lou-issssssssssss!», schreie ich erneut und ich renne ihm hinterher.

Ich will ihn nicht verlieren. Ich will ihn nicht verlieren. Wenn Louis geht, werde ich alleine sein und ich brauche ihn, mehr als alles andere auf dieser Welt.

Während dem Rennen steigen mir Tränen in die Augen.

Und dann... kurz vor dem Abgrund kann ich Louis Rollstuhl in letzter Sekunde stoppen.

Mir dreht sich der Magen um, währendem ich den Rollstuhlgriff so fest umklammere, dass meine Finger schmerzen.

Ich ziehe ihn zurück und beuge mich zu ihm.

«Lou, bist du wahnsinnig geworden? Wolltest du dich etwa umbringen?»

«Ja, verdammt! Ich wollte dir das Leiden ersparen!»

«Das Leiden ersparen? Hallo, gehts noch?»

«Ja, verdammt. Der Arzt hat gemeint, dass ich nur noch wenige Monate zu leben haben werde. Wenn überhaupt!»

In dieser Situation begreife ich nichts und verdränge sowohl seinen Tod als auch die Gefahr, in die ich mich begebe ihn zu verlieren.

Bevor ich Gelegenheit habe, etwas darauf zu erwidern, fährt Louis mit den Fingern über meine Wangen und streicht meine Haare zurück. Dabei sieht er mir tief in die Augen.

«Ich hätte mich zuerst bei dir verabschieden sollen!»

Ich presse meinen Mund auf seinen und wir küssen uns verzweifelt.

«Ich will dich nicht verlieren!», erkläre ich ihm schliesslich. «Auf uns wartet doch noch ein Abenteuer ins Heidiland, hallo. Schon vergessen?»

Ich ringe mir unter den Tränen ein Lächeln.

«Du nimmst dein Nationalstolz schon ziemlich ernst!»

«Ja, aber freilich. Die Schweiz ist...»

«Ach, halt doch die Klappe, little Heidi."

Nach einem Moment müssen wir beide lachen.

«Hast du eigentlich keine andere Möglichkeit infrage gestellt, als dich von der Terrasse zu stürzen?»

«Welche Möglichkeit hätte ich denn, als auf eine Stammzellentransplantation zu warten? Das dauert viel zu lange und dafür habe ich keine mehr Zeit.»

«Du weisst schon, dass ich ein paar Follower auf Instagram habe. Und vielleicht da...»

«Ah, schön für dich. Und was bringen die ein paar Follower? Von wie vielen ist überhaupt die Rede?»

Ich kratze mir die Stirn. «Ehmm, etwa eine halbe Million, oder so? Ich weiss es nicht so genau, weil mir die Zahl nicht wichtig ist.»

Louis fällt die Kinnlade runter. «Ein paar Follower, du bist ja witzig! Hast du etwa auch noch den blauen Haken?»

«Ja, kann sein! Ich weiss es gar nicht so genau

Mir ist bewusst, dass es ein Wettlauf um die Zeit ist. Vielleicht hast du dadurch eine Chance. Wir müssen jetzt nach jedem Strohhalm greifen, den wir kriegen können. Und das bist du mir jetzt schuldig. du wolltest einfach gehen, ohne mich... ohne Abschied zu nehmen!»

«Da bleibt mir wohl nichts anderes übrig...»

BEFORE YOU SAY GOODBYE | 🇩🇪Where stories live. Discover now