ZEHN - ER

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Und plötzlich ist nichts mehr, wie es war...

Ich halte an meiner alten Schule, laufe über das schneebedeckte Fussballfeld und hinterlasse die letzten Fussspuren mit meinen Turnschuhen. Meine Mitspieler und mich hat dieser Mannschaftssport geformt, geprägt und in uns gute Gefühle der Solidarität, Zielstrebigkeit und Toleranz entwickelt.

Ohne Fussball, so bin ich überzeugt, wäre ich um vieles ärmer gewesen. Ich habe im Fussball so viel erlebt, dass mich nichts mehr erschüttern kann.

Beim Match, wenn manche Kollegen aufspringen, ans Spielfeld rennen, mit dem Finger auf irgendjemand zeigen, den Schiedsrichter anbrüllen, war ich als Captain an vorderster Front immer dabei.

Ich marschiere weiter - mit weichen Knien und

wirren Gedanken. Jetzt bin ich genau zwanzig Meter von der Bank entfernt.

Vor ein paar Monaten erhielt ich die Diagnose Knochentumor unterhalb des Schienbeinknochens.

Auf die Frage, warum ich einen Tumor hatte, konnte mir auch der Arzt keine konkrete Antwort geben.

Er würde ja genau darum forschen, sagte er mir. Auf meine damals ängstliche Frage hin, ob ich dann vom Rauchen auch noch Lungenkrebs bekommen könnte, schmunzelte er und sagte, dass glaubte er nicht, denn dann müsste er ihn schon haben. Seit 20 Jahren würde er circa eine Schachtel Zigaretten am Tag rauchen.

Nach der Diagnose folgte das Übliche.

Eine sogenannte Probenentnahme von Gewebe, um es auf Bös- oder Gutartigkeit zu untersuchen.

Dann bekam ich den langersehnten Brief mit dem Befund der Untersuchung. In meinem Fall war ausnahmsweise die Durchführung mit Zusatzuntersuchungen erforderlich.

Dies müsse für mich kein Anlass zur Sorge.

So hiess es. Kein Anlass zur Sorge?!

Die waren gut, mein Herz schlug bis zum Hals und ich konnte damals an nichts anderes mehr denken.

Und ehe ich mich besinne, liege ich auf dem kalten, schmalen Operationstisch und grüne Kittel sausen um mich herum.

Die Operation verläuft gut und ich wache einen halben Tag später auf der Intensivstation auf. Ich komme ganz langsam im Leben an.

Der Tumor, der aus meinem Schienbeinknochen gewachsen war, hatte auch das Wadenbein erfasst und daher musste das linke Unterbein amputiert werden.

Nach der OP habe ich vom ersten Tag grosse Schmerzen. Als Folge meiner Amputation stellen sich zusätzlich Phantomschmerzen ein. Ich habe längst keine zwei Beine mehr, ich sehe nur noch eines, ich fühle nur noch eines. Wenn es das andere Bein gibt, weiss ich nicht, ob es

mir folgt, ob es etwas tut, was ich befehle.

In ein paar Tagen werde ich auf die Onkologie-Station verlegt. Obwohl mir der Tumor entfernt wurde, muss ich unbedingt eine Chemotherapie durchlaufen. Um wieder gesund zu bleiben, würde mir keine andere Wahl bleiben.

Als ich jedoch zum zweiten Mal den Arzt aufsuchen musste, weil es mir dermassen schlecht ging, wurde die tödlichste Krebserkrankung von allen diagnostiziert.

Meine weissen Blutkörperchen, die für die Abwehr- und Aufräumarbeiten bei Infekten, Verletzungen zuständig waren, vermehrten sich in meinen Körper abnormal.

Bei meinem Fall nun kam es zu einer bösartigen Veränderung der Stammzellen.

Die daraus entstehenden Zellen vermehrten sich rasch und verdrängten die gesunden Blutzellen im Knochenmark. Ausgehend vom Knochenmark aus wurden die kranken Zellen in die Blutbahn entlassen und gelangten so in andere Organe. Dort gingen das Teilen und Vermehren ungehemmt weiter. Mein Körper fängt an sich von innen selbst zu zerstören.

Es geht also nicht lang, bis sich das Ungeheuer bemerkbar macht und auch noch die Aussenwand mit einem Schlag durchbrechen.

Die Ärzte machen mir deshalb wenig Hoffnung. Solange ich noch kann, verteidige ich den Schutzwall - das Tor.

Ich kämpfe wortwörtlich nun um mein Leben und ja, ich lebe jeden Tag so, als wäre es mein Letzter. Mittlerweile gehört das Überleben zu meinem Alltag.

Ich habe nichts dagegen, nie wieder aus diesem Chaos aufzuwachen. Doch genau das tue ich heute wieder. Im Krankenhaus. Ich fühle mich deswegen schlecht, aber ich kann nichts ändern.

Plötzlich geht die Tür auf und es kommt jemand rein. Er sitzt im Rollstuhl und steuert ihn auf mich zu.

„Hey Glatzkopf, muss ich mir erst eine Kette aus Hähnchenflügeln um den Hals hängen, damit ich deine Aufmerksamkeit bekomme oder gehst du immer so mit deinen Gästen um?"

„Was willst du?", schnaube ich genervt und wische mir die schmutzigen Finger an meinem Shirt ab.

Ja, Clary lässt täglich ihre guten Beziehungen zur Küchenmannschaft spielen. Worauf ich mir heute einmal einen fettigen Hähnchenflügel genehmigen kann.

„Ich weiss nicht. Es ist schliesslich Mittag und...", beginnt er grüblerisch an die Decke starrend, während er sich am Kinn kratzt.

Ich beuge mich vor. „Willst du mich verarschen?"

„Das würde mir im Traum nicht einfallen."

„Also noch mal: Was willst du?"

„Du bist ziemlich gut. Für jemanden, der bis vor ein paar Wochen noch keine Ahnung von all dem hatte. Ich weiss, dein Leben ist jetzt so ziemlich kompliziert, aber es hat auch seine guten Seiten."

„Davon sehe ich gerade nicht so viele.", zische ich genervt.

„Ja, das verstehe ich. Immerhin hast du Clary, die treuste Seele in diesem Gefängnis. Wenn sie auf deiner Seite steht, dann ist alles schon halb so aussichtslos."

„Habe ich sie dir etwa weggeschnappt?"

„Hilfe, nein!", der Glatzkopf lacht. „Sie ist mir viel zu lieb. Ich bin mehr so der BadBoy-Typ. Unartige Ladies stehen bei mir Schlange."

„Und wo sind deine Chickas?"

„Tja, sie wissen noch nicht von ihrem Glück.

Ich bin Simon und der Coolste von allen mit meinem Bauchspeicheldrüsenkrebs. Mit meinem Insulinüberschuss kann ich so manche um den Finger wickeln, sofern sie nicht an Diabetes erkranken möchten."

Ich kriege mich gar nicht wieder ein vor Lachen und lache, bis mir die Tränen kommen. Mein Lachen steckt an. Auch Simon muss lachen.

„Du bist echt ein ziemlich schräger Vogel, Simon."

BEFORE YOU SAY GOODBYE | 🇩🇪Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt