VIERZEHN - ER

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Ein quälendes Ziehen schnürt mir die Brust zu. Es ist dasselbe schon vor Wochen, als ...

Ich kralle mich an meinem Unterarm fest, um den Schmerz zu kanalisieren. Auch wenn ich mir alle Mühe gebe, nach vorne zu schauen, holt mich dieses Gefühl von Leere immer wieder ein.

Das Letzte, was ich jetzt gebrauchen kann, sind bemitleidenswerte Blicke von Fremden. Ausserdem habe ich mir geschworen, durch die Menschen hindurchzuschauen. Doch ihr Blick habe ich bemerkt.

Sie hat mich angestarrt, das ist das letzte Bild, das von ihr in meinem Gedächtnis ist. Das Bild, der mich schamvoll - ja, schamvoll anstarrenden Brünette. Dann hat sie etwas gemurmelt, das ich nicht verstanden habe.

Wenn ich nicht im Rollstuhl sässe, wäre die Begegnung anders verlaufen.

Warum habe ich bloss an jenem Tag meine sündhaft teure Prothese zerstört? Ja, ich habe meine Beinprothese zerstört, habe sie zerschlagen, wahllos irgendwelche Kabel zerschnitten. In diesem Moment habe ich mich niemals so verloren gefühlt.

Ich stecke in einem tiefen Loch, aus dem ich nicht herauskomme. Manchmal liege ich einfach in meinem Zimmer weinend, grüblerisch und traurig. Mein Körper und meine Seele schmerzen.

Wenn jemand meint, dass die Zeit alle Wunden heilen kann. Der kann mich mal. Ich habe mir die Zeit dafür genommen von Simon Abschied zu nehmen.

Manchmal glaube ich, dass ich meinen Verstand verloren habe. Es fühlt sich an, als wäre mein Leben nicht meins. Wer kann es verstehen?

Ich drehe mich um und werfe einen letzten Blick auf sie.

Ihre Augen sind wie blanke, braune Teddybärglasknöpfe mit grossen, schwarzen Pupillen. Ich finde, dass ich noch niemals so schöne Augen gesehen habe. Zudem fällt ihr kastanienbraunes Haar in üppigen, natürlichen Locken auf ihre Schultern herab.

Eigentlich sieht sie hübsch aus, wenn sie nicht so ein Biest wäre. Auf weitere Details habe ich in diesen kurzen Augenblick nicht mehr geachtet, da es effektiv zu kurz war jemanden von Kopf bis Fuss zu mustern.

Ich zittere wie Espenlaub, und mein Magen zieht sich zusammen, als mir Bilder in den Kopf schiessen, als hätte ich dieses Treffen gerade nochmals erleben müssen. Oh je, ich glaube, jetzt muss ich wirklich gleich kotzen.

Tief sauge ich die schwere Luft ein und schliesse meine Augen in der Erwartung, irgendetwas müsste jetzt geschehen.

«Alles in Ordnung, Louis?»

Ich lehne mit der Stirn an der kalten Wand und die Stimme und die Hand auf meiner Schulter lassen mich zusammenfahren. Hier bin ich nun schon eine Weile.

Ich hebe den Kopf, bemühe mich um ein Lächeln für Clary und bejahe ihre Frage.

Sie bedeckt mich mit einem letzten besorgten Blick.

«Wo warst du die ganze Zeit!?" höre ich Clarys hohe, aufgeregte Stimme sagen.

„Honey, ich war hier, wo hätte ich denn sonst sein sollen?" gebe ich genervt zur Antwort.

«Bei mir? Ich habe für heute eine besondere Überraschung geplant.»

«Ich hasse Überraschungen!», stelle ich klar, worauf sie verständnislos ausschnauft.

«Wer hasst denn schon Überraschungen?»

«Ich.»

«Ähmmm, nur damit ich dich richtig verstehe: Was genau magst du nicht an Überraschungen, wenn ich fragen darf?»

„Du darfst, Honey! Ich ziehe es vor, mich auf Situationen vorzubereiten. Überraschungen nehmen einem die Möglichkeit, sich auf etwas einzustimmen.»

„Mit anderen Worten, du bist nicht spontan?!»

«Ich bin doch spontan!», wehre ich mich gegen ihren Vorwurf. «Es hat etwas mit Planung zu tun. Ich bin ehmm eher der strukturierte Typ. Jemand, der gern Kontrolle und so hat.»

«Uh, jetzt kommen wir der Sache schon näher.

Wusste ja gar nicht, dass du so ein Kontrollfreak sein kannst!»

«O! O! Ich fühle mich sehr geschmeichelt. du weisst, wie wahnsinnig ich sein kann. Das Chaos ist in mir und ich bin sehr chaotisch veranlagt.»

Clary kann ihren Lachkrampf kaum noch unter Kontrolle halten. Ihre zauberhafte Art zu Lachen ist hochansteckend, ähnlich eines Virus gegen den man nicht geimpft werden kann. Wenn man sich erst mal infiziert hat, ist es ein langer, mühevoller Heilungsprozess, bis man wieder gesellschaftsfähig wird.

«Also willst du jetzt mitkommen, Mister Kontrollfreak?!»

„Mir bleibt ja nichts anderes übrig, weil ich dir nicht davonrennen kann.»

„Haha! Ach, dieser legendäre Rollstuhlwitz. Freu dich bloss nicht zu früh...», meint sie darauf hin.

Beherzigt greift sie nach den Rollstuhlgriffen und schiebt mich den Gang hinunter.

«Aber wir müssen unterwegs einen Zwischenstopp einlegen.»

BEFORE YOU SAY GOODBYE | 🇩🇪Where stories live. Discover now