•FÜNFUNDVIERZIG - ICH•

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Es ist selbstverständlich, dass ein gutes Bild eine Geschichte erzählt. Und wie in einer Erzählung wird jeder, der dabei war, eine andere Geschichte erzählen, weil er die Situation anders wahrgenommen hat.

Unmittelbar nach der Wohnungstüre bleibt Clary stehen und betrachtet fasziniert meine Wand.

«Während meiner Tour durch Europa suchte ich fast jeden Souvenirladen im jeweiligen Land auf, nur um ein paar Postkarten zu kaufen.», erkläre ich ihr.

«Es ist immer wieder erstaunlich, welch anhaltender Beliebtheit sich Postkarten im Zeitalter der E-Mail erfreuen.»

«Wie wahr!»

Ein Foto von meiner Familie und mir ist lediglich eines von vielen, die hier an dieser Wand hängen. Es ist eine Augenweide. Keine Jahreszeit bietet eine so grosse Fülle an Farbenpracht wie diese Wand.

Wie viele Stunden hatte ich die Bilder an der Wand betrachtet...

«Man kann fast schon sagen, dass alles, was dir am Herzen liegt, hier an dieser Wand befestigt worden ist.»

Ich nickte heftig. «Ja, das kann man so sagen.»

«Sogar das Wattpad Logo hast du aufgehängt.», schmunzelt Clary und deutet auf das orange W.

«Wattpad habe ich so vieles zu verdanken! Erst durch diese Social Media Plattform habe ich meine Leidenschaft zum Schreiben entdeckt und kann von meinem eigenen Buch mittlerweile leben.»

«Wenn du darüber nachdenkst, dass die Wattpad-Community über 80 Millionen Nutzer aufweist und du einer davon bist, fühlt sich das irgendwie surreal an.»

«Eine von 80 Millionen. Diese Summe ist wohl nur ein Tropfen auf dem heissen Stein.»

«Und trotzdem bist du bodenständig geblieben, Mona!»

«Ich versuche mein Bestes. Zumal ich arrogante Menschen verabscheue. Solche, die uns alles weismachen wollen. Bitte komm mit, wir können uns ins Wohnzimmer setzen.»

«Was für einen Kaffee möchtest du?», frage ich schalte die Kaffeemaschine ein und blicke auf das rote Lämpchen an der Seite.

«Einen Normalen, bitte.»

«Geht klar!», antworte ich ihr, stelle die erste Tasse unter die Maschine und lass einen Kaffee raus.

Clary sitzt still auf dem Barhocker, den Blick in die Ferne schweifend.

«Wo bist du mit deinen Gedanken?»

Sie sieht mich verwirrt an und schweigt. Irgendetwas beschäftigt sie, da bin ich mir sicher. Nur was?

Ich nehme die kalte Schokolade aus dem Kühlschrank und reiche ihr ein Stück Schokolade.

«Schokolade hilft immer.», sage ich und drücke ihr die Tasse in die Hand.

«Ich merke doch, dass dich irgendetwas beschäftigt", unterbreche ich die Stille zwischen uns. «Möchtest du darüber reden?»

Clary starrt schweigend in ihre Kaffeetasse. Dann atmet sie fast keuchend, presst die Lippen aufeinander und zieht die Mundwinkel nach unten.

Ich setze mich neben sie und ziehe sie in meine Arme. Clary fällt mir sofort schluchzend in den Hals. Tränen rinnen ihr über die Wangen.

«Es ist nicht einfach», stammelt sie. Ich drücke sie fester und versuche, sie zu trösten. Ich weiss nicht, was ich sagen soll. Sie atmet tief ein und lässt weniger später wieder mich los.

«Scheisse, Entschuldigung. Ich sollte nicht weinen. Sorry!»

Die Mascara unter ihren Augen ist zu einer Kriegsbemalung verschmiert. Als Clary mich dabei erwischt, wie ich ihr ins Gesicht sehe, nimmt sie den Zeigefinger und fährt sich langsam unter jedem Auge entlang, was wirklich nicht viel bewirkt. Ihr Make-up ist ruiniert.

«Es ist schon in Ordnung! Mach dir keinen Kopf darüber!»

Clary lächelt mich wässrig an. «Ich bin überrascht, dass mich das so mitnimmt.»

«Darf ich fragen, was passiert ist?»

Clary sieht mich an und schluckt dabei schwer.

«Mein Freund hat sich vor paar Monaten das Leben genommen. Und Louis macht sich dauernd Vorwürfe.»

Ich schaue sie entsetzt an, aber sie weicht meinem Blick aus und starrt an mir vorbei.

«Mein Beileid. Es tut mir leid!»

«Simon, so hiess mein Freund, war mein Patient und zugleich der Bettnachbar und beste Freund von Louis.»

Ich nickte und signalisiere ihr, dass sie weitersprechen soll.

«Eigentlich war es Louis, der uns zusammengeführt hat, oder vielmehr hat mich Simons Art die Dinge zu sehen, verzaubert.», schwärmt sie. «Jeden Tag haben mich die Glatzköpfigen Bad Boys, so haben sich die beiden genannt, zum Lachen gebracht. Schliesslich waren die 2 für ihre dämlichen Sprüche auf der Station bekannt.»

«Dazu Louis Lächeln, das erschreckend süss und ehrlich ist.», platzt es aus mir heraus.

«Du magst ihn, habe ich recht?»

Ich suche nach Worten. «Ja, ich meine, er ... ich denke ständig an ihn, aber vielleicht ...»

Clary lächelt selbstzufrieden. »Das ist schön. Er mag dich nämlich auch, sehr sogar!»

«Das bezweifle ich. Louis hat mir deutlich gemacht, dass ich so quasi Abstand nehmen soll und nicht in seine Nähe kommen darf.»

«Was?»

Ich nehme ein Stück Schokolade und lasse es auf der Zunge zergehen. Ganz. Im Prinzip ist Schokolade auch Nervennahrung. Zumindest für mich.

«Warum hat er mich dann gebeten, dich zu kontaktieren?»

Ich zucke mit den Schultern. Irgendetwas in ihrem Blick erinnert an Sofie. Ich sollte sie dringend wieder mal besuchen!

«Du weisst, wie es um ihn steht...?»

«Nein, wie auch...Wir haben nie darüber gesprochen.»

«Mhmmm...» Etwas Schmerzliches liegt in ihrem Blick und grosse Tränen rinnen ihr wieder über die Wangen.

«Dann wird es Zeit, dir die unverblümte Wahrheit zu sagen. Louis geht es beschissen und es ist nur eine Frage der Zeit....bis er stirbt.»

Einen Moment lang bleibt alles stehen. Mein Herz stoppt in meiner Brust, mein Atem versagt, meine Hände kleben an der Theke fest.

BEFORE YOU SAY GOODBYE | 🇩🇪Donde viven las historias. Descúbrelo ahora