•ACHTUNDFÜNFZIG - ER•

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Gestern war wieder so ein Tag, an dem ich an meine Grenzen gekommen bin. Um ehrlich zu sein, war ich kurz davor aufzugeben, doch ich bin standhaft geblieben und habe durchgehalten. So wie in den vergangenen Monaten. Ich habe zwar kaum etwas davon geschafft, was ich mir vorgenommen habe. Aber... ich bin jetzt aufgestanden. Das ist ein Fortschritt. Ich habe Hoffnung, dass der heutige Tag besser wird, denn irgendwie muss es ja besser werden, weil es kaum noch schlechter werden kann. Heute ist der grosse Tag, der ersehnte Tag, der gefürchtete Tag, der Tag, der ein grosses Schicksal beenden soll.

Ein bitteres, flaues Gefühl macht sich in meiner Magengegend breit. Ja, ich bin nervös.

Verdammt! Und wie nervös ich bin.

Um den Therapieerfolg zu messen, wird der Tumormarker gemessen. Sinken die Marker im Blut, schlägt die Therapie an. Und wenn er unverändert bleibt oder besser gesagt steigt? Ich hätte gerne eine passende Antwort auf diese Frage. Daran möchte ich nicht denken. Nicht jetzt. Nicht in 5 Stunden. Am besten überhaupt nicht mehr. Ich will wieder gesund sein. Meine Krebsdiagnose soll kein Dauerzustand bleiben.

Mein Arzt meint zwar immer, dass die Tumormarker nicht allein ausschlaggeben sind, denn die anderen Werte im Blut sind matchentscheidend.

So etwa wie im Fussball, wenn die zweite Spielhälfte in die Verlängerung geht. Die Stürmer von beiden Mannschaften haben eine Art von Hoffnung, ein Tor zu schiessen. Doch die Hoffnung ist nichts Gewisses und die Ungewissheit reibt auf.

Mit dem Löffel stochere in meiner Schüssel umher. Ich weiss gar nicht, was ich in der matschigen Milchbrühe mit zuckerarmen Cornflakes suche. Heute kriege einfach ich keinen Bissen runter.

Als ich zurück in meinem Bett bin, wird die Tür geöffnet und Clary schiebt den Essenswagen hinein.

«Guten Morgen mein Honigbärchen!

Und bist du schon aufgeregt?»

Ich wiege unschlüssig den Kopf. «Ein bisschen schon. aber weniger vor dem Gespräch, sondern mehr vor dem Resultat.»

«Das wird schon!», meint sie und tiefe Entschlossenheit breitet sich auf ihrem Gesicht aus.

«Absolut! dein Honigbärchen hat keine Angst. Vor nichts und niemanden.»

«Du bist echt süss! Achja! Ich soll dir von Mona ausrichten, dass sie heute etwas später kommt. Sie hätte noch eine Besprechung.»

«Wieso war ihr nicht früher eingefallen?»

«Im Gegensatz zu dir ist sie ein wahrer Kontrollfreak. Ich könnte mir durchaus vorstellen, dass sie dir noch geschrieben hat oder auf die Combox gesprochen hat. Schau doch mal nach...»

«Mein Handy spinnt total. Es hat mir einen... Kann man sich mit dem Handy ein Virus einfangen?»

«Ich denke, du hast wieder viel zu viel Fussball geschaut.»

«Leider irrst du dich da gewaltig.»

«So, was hast du denn mit deinem Smartphone gemacht?»

«Ich wollte mir das Buch von Mona als Audio herunterladen und irgendwie hat es nicht geklappt. Vermutlich ist mein Datenvolumen wieder aufgebraucht, oder noch besser gesperrt wie das letzte Mal, weil meine achso tollen Eltern vergessen haben meine Rechnungen zu zahlen. Schau selbst!»

Ich halte ihr mein Telefon hin. Der Bildschirm ist schwarz und macht kein Wank.

«Hey! Sei nicht so fies zu ihnen! Deine Eltern sind schliesslich immer noch deine Eltern. Vergiss das nicht!»

«Du nimmst sie noch in Schutz? Wo waren meine Eltern, als ich sie dringend gebraucht habe? Wie jetzt beispielsweise? Sie haben sich verpisst!»

«Weisst du was, du kannst gern mein altes Handy haben und ich schliesse in meinem Vertrag ein weiteres unlimitiertes Abo ab.»

Clary schenkte mir ein aufmunterndes Lächeln.

«Bist du wahnsinnig? Das wird bestimmt ein halbes Vermögen kosten!!»

«Lou, bevor du dich jetzt aufregst, versichere ich dir, dass es ein freundschaftliches Darlehen ist. du kannst es mir irgendwann nach und nach mal zurückzahlen.»

«Aber...», erwidere ich.

«Nimm es gefälligst an und iss gefälligst noch etwas!»

«Ai! Ai, Honey!»

BEFORE YOU SAY GOODBYE | 🇩🇪Where stories live. Discover now