ZWÖLF - ER

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"Ah, wie ich sehe, habt Ihr Euch schon bekannt gemacht, schön."

„Oh ja", schnaube ich theatralisch.

Ich blicke auf und lächle entschlossen in die Richtung des Raumes, wo ich ihre Augen vermute. Da sind sie auch - in einem hübschen, freundlichen Gesicht.

Clary lächelt zurück und tritt näher.

Simon knallt eine Karte auf den Tisch und ruft: „Uno."

Ich richte mich entsetzt auf. „Nein, Simon! Das geht nicht." Und dann knalle ich eine bunte Karte auf den Tisch. „Ich wünsche mir Rot! Nimm das, Glatzkopf!"

„He! Entschuldige, was hast du da gerade gesagt?", fragt Clary entsetzt nach.

„Ich habe gesagt: Nimm das, Glatzkopf.", wiederhole ich etwas weniger inbrünstig.

„Ach, Ihr zwei seid echt süss, ehrlich!"

Simons Augen weiten sich. „Ich bin wie Zucker. Aber in Wirklichkeit bin ich wohl mehr wie eine Zitrone, aber das soll mein zukünftiger Mitbewohner jetzt noch nicht wissen."

Clary verdreht die Augen. „Ich habe sehnsüchtig auf deiner dämlichen Sprüche gewartet, mein Lieber. Vielen herzlichen Dank dafür."

„Tja, was will man machen? Mit Bauchspeicheldrüsenkrebs kann man sogar Zucker pupsen. Die legale Droge, die uns das Leben versüsst."

„Was kannst du?", wiederhole ich seine Worte.

Ein paar Monate später

Schweissgebadet wache ich auf und ringe nach Luft. Mein Herz rast, mein Atem geht stossweise. Ich zittere so heftig, dass das Bett unter mir vibriert ...

Seit dem Tod von Simon hat so vieles an Bedeutung verloren. Mit Krebs kommt der Unterschied. Zwischen dem eigenen Leben und dem Leben der Anderen. Zwischen denen, die hier drin sein müssen und denen, die draussen sein können.

Und jetzt ohne Simon zu sein, weiss ich nicht mehr, wofür ich kämpfen soll. Das Leben ist so absurd, dass es sich deswegen wirklich lohnt in Selbstmitleid zu versinken.

„So, jetzt bitte stillhalten, Louis! Ich muss die Infusionsnadel entfernen!", bemuttert mich Clary.

„Okay, Honey!"

„Wie oft muss ich es dir denn noch sagen, dass ich nicht dein Honey bin?", zischt die blondhaarige Krankenschwester genervt.

„Okay, Honey!"

„Du bist ja ein richtiges Schlitzohr, mein Lieber!"

Ich nicke und blicke gedankenverloren aus dem Fenster währendem mir Clary die Nadel entfernt.

Früher hätte ich noch mehr coole Sprüche geklopft und vor anderen einen auf Draufgänger gemacht, wobei ich innerlich ganz zerbrechlich bin. Heiliges Ehrenwort!

Jetzt noch habe ich Angst von Leuten zurückgewiesen zu werden. Und da will ich lieber, dass sie einen Louis abweisen, der anders als der Echte ist. So würden sie nicht wirklich mich abweisen, sondern quasi eine Fantasiefigur. Damit kann ich leben.

„Ich vermisse Simon auch!"

Eine einzelne Träne löst sich und kullert meine eiskalte Wange hinunter. Mit diesem Satz hat sie vollkommen ins Schwarze getroffen.

Ich drehe meinen Kopf zu ihr hin und blicke in ihre hellbraunen Augen.

„Mhmm....Simon nochmal zu sehen 'wäre das grösste Geschenk. Immer wenn ich an ihn denke, genau in diesem Moment!"

Sie nimmt mich in den Arm und drückt mich fest an sich. „Soll ich dir was sagen? Ich vermisse ihn auch."

Sie bewegt ihre Hand auf und ab, drückt mir gleichzeitig fast die Luft weg, als sie ihren Busen auf mein Gesicht legt.

„Hon-ey, ich kr-ieg keine Lu-ft me..."

„Oh! Entschuldige...", entgegnet sie darauf und lässt mich sofort los.

„So und jetzt kommst du mit!", fordert sie mich auf und zupft ihre weisse Arbeitskleidung zurecht.

„Ich will hier bleiben..."

„Nein!"

„Aber....Honey!", entgegne ich ihr.

„Keine Widerrede, Louis. Meinetwegen, wenn du mich unbedingt Honey nennen willst, bin ich nun damit einverstanden. Aber du kommst jetzt mit!"

„Ach, Honey. Du kannst dir nicht vorstellen, wie viel mir das bedeutet..." scherze ich, hebe die Beine über den Bettrand, stehe auf und setze mich in meinen Rollstuhl. Geschickter und schneller als vor ein paar Monate...

Ich wirble in meinem Rollstuhl herum.

„Wohin geht's, Honey?", frage ich Clary neugierig und fahre auf sie zu.

„Lass dich überraschen..."

Wenn ich vorher gewusst hätte, was mich erwartet, wäre ich lieber hiergeblieben als Clary zu folgen....

Aus einigen Zimmern treten die Patienten heraus und sehen zu, wie mich Clary den Flur hinab schiebt.

Auf einmal ist eine weitere Schwester mit einem zweiten Rollstuhl neben uns, in dem ein anderer Patient sitzt. Ich schätze, er ist so um die 18 Jahre alt. Sein linkes Bein ist hochgelagert und befindet sich in einem Gipsverband. Er muss neu hier sein, denn ich habe ihn noch nie zuvor gesehen.

«Sie müssen schnell kommen... Sie atmet nicht mehr.......», schreit jemand verzweifelt.

Die beiden Krankenschwestern eilen davon und gleich darauf ertönt durch die Lautsprecher: Notfall! Doktor Johnson bitte auf Station 5.

«Na, was hältst du von einem Rennen?», fragt er in das Schweigen hinein und kippt währenddessen mit seinem Rollstuhl.

„Nein!"

Ich versuche ruhig zu bleiben. Es ist nicht leicht, wenn um mich herum ein Sturm tobt. Manchmal bewundere ich genau diejenigen, die das können auf Stress, Stau, Druck und nervende Menschen gelassen zu reagieren.

Wie soll ich da noch ruhig bleiben, wenn dieser Idiot mir dauernd in mein rechtes Rad fährt?

Gute Frage!

«Du verhältst dich schwach!»

Er provoziert mich ganz bewusst.

«Ein Rennen ist doch nicht zu viel verlangt!»

Schliesslich tritt er hinter den Rollstuhl und packt die Griffe. Er will sie voranschieben, doch in dem Moment, wo meine Arme nach hinten greifen, um die Richtung zu ändern, merke ich, wie ich die Kontrolle über den Rollstuhl endgültig verliere.

Vor Schreck zucke ich zusammen. Der Rollstuhl schiesst dabei nach vorne, dabei versuche ich verzweifelt dagegen zu steuern. Ich bin effektiv zu schwach! Mir fehlt schlichtweg die Kraft, die Armmuskulatur um ihn aufzuhalten.

Ich merke, wie mein Herz pocht, hole einmal tief Luft und sage dann zu ihm: „Bin dabei!"

Im ersten Moment habe ich mir darüber keine Gedanken gemacht, was ich hier eigentlich mache.

Mache ich meistens nie, mir gross Gedanken zu machen, was für Folgen es geben könnte. Wie auch? Schliesslich bin ich eine tickende Zeitbombe, bei der man nie genau weiss, wann die Explosion stattfinden wird.

Ich lehne meinen Oberkörper so weit nach vorn, bis ich beinahe aus dem Rollstuhl kippe. Gleichzeitig greifen meine Hände nach den Rädern. Ich gebe ziemlich Gas!

Immer, immer schneller drehen sich die Räder.

Die Patienten, die an den Wänden des Flurs stehen, grinsen und beugen sich herab und kommen mit ihren Gesichtern ganz dicht an mich heran.

Auf einmal bin ich mir sicher, dass ich kein krebskranker Junge bin und kein Todesurteil auf meiner Stirn eingraviert ist.

Monatelang frage ich mich, was ich mit meinem Leben anfangen soll. Plötzlich habe ich eine Antwort...Doch dann....

BEFORE YOU SAY GOODBYE | 🇩🇪Where stories live. Discover now