DREIZEHN - ICH

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Es gibt Momente im Leben, da steht die Welt plötzlich still – und wenn sie sich weiterdreht, ist es nicht mehr so, wie es war. Hans Bröck

Lucy ist völlig aus dem Häuschen, als wir den Lift betreten. Bislang habe ich noch nicht viel vom Krankenhaus gesehen, was mich immer noch sehr beunruhigt. Zur Erinnerung: Ich hasse Krankenhäuser (immer noch).

«Nun möchte ich euch noch zuerst unsere Wunsch-Wand zeigen!», meint sie und drückt auf den Liftknopf.

«Wunsch-Wand?», wiederhole ich neugierig.

«Kennst du das etwa in deinem Land nicht?», fragt Tom und kann sein Lachen nicht verkneifen.

Ich verdrehe genervt die Augen. Und hier sind wir wieder beim heutigen Thema angelangt.

Deutschland gegen die Schweiz. Soll ich etwas Öl ins Feuer giessen?

Vielleicht könnte ich eine Bemerkung machen, dass die deutsche Fussballnationalmannschaft dieses Jahr vor der Schweiz ausgeschieden ist? Für die meisten auf der Welt war es schon eine kleine Sensation, was zur Folge „von Hochmut kommt vor dem Fall" kam. Schliesslich schied einige Tage später auch die Schweiz aus.

Damit könnte ich definitiv einen wunden Punkt bei ihm treffen.

Noch etwas: Männer sollten entweder selbst Fussball spielen oder zumindest leidenschaftlich Fussball schauen – die Gründe dafür erspare ich dir lieber. Bei den Frauen ist das natürlich wieder ein anderes Thema.

Aber um zum eigentlichen Punkt zu kommen, was ich schon längst hätte tun sollen:

Ich hasse Fussball aus tiefstem Herzen.

Warum mittlerweile jeder Fussball gut findet, erscheint mir nicht logisch. Jedem Kind kannst du das runde Leder hinlegen und es kann, wenn es bereits gehen kann, mit dem Fuss drauf kicken. Dieses Gefühl scheint viele Menschen glauben zu machen, dass sie bei den Profis mitspielen könnten und natürlich auch alles besser machen.

Gähn, langweilig!

Noch bevor ich etwas sagen konnte, fährt Lucy

fort. 2:1 für Deutschland! Herzliche Gratulation.

Gerne hätte ich ihm meine Meinung so richtig

um die Ohren gelöffelt. Ich bremse mich gerade noch.

«Es ist eine Wand mit unzähligen Bilderrahmen, in jedem davon befindet sich ein Wunsch. Vor allem bitten wir unsere Langzeitpatienten, die länger als ein Jahr hier sind, einen ihrer Herzenswünsche aufzuschreiben.

«Dürfen wir denn als Gast auch einen Wunsch äussern?», will Parker wissen.

«Ja, selbstverständlich! Träume, Ziele, Hoffnung erfüllen aus psychologischer Sicht einen wichtigen Zweck: Sie geben uns Orientierung und motivieren uns. Eine Wunsch-Wand zu haben, ist für uns zudem die wertvollste und schönste Methode, die Menschen in Not zum Lächeln zu bringen.

«Wow! Das finde ich ja eine grossartige Idee.», sage ich.

Ein gewisser Stolz schwingt in ihren Worten mit. Ihre Augen leuchten vor Begeisterung, als Lucy mit der Erzählung fortfährt. Die Lifttüren öffnen sich und geben den Blick frei auf die gesagte Wand.

Ich kann meinen Augen nicht trauen.

Ohne Übertreibung – die gesamte Wand ist mit farbigen Bilderrahmen bestückt.

Ich bin überwältigt, was die Patienten für Wünsche haben und trete näher.

«Die Menschen mich so akzeptieren würden, wie ich durch meine Krankheit geworden bin: wenigster leistungsfähiger, aber voller Träume und Hoffnungen.»

«...wenn man einfach wüsste, wo die Reise hingeht.»

«Ich wünsche mir, dass ich einen Tag ohne Schmerzen aufwachen kann."

„Wieder Schokoladeneis essen."

Für mich ist es unvorstellbar, sich von schwerer Krankheit zu genesen und wieder vollkommen gesund zu werden. Vielmehr ist die Krankheit ein selbstverständlicher Bringer von Leid und Tod.

Wenn ich einmal ganz ehrlich zu mir bin, habe ich eigentlich fast alles, was ich brauche. Ich habe eine tolle Familie und Freunde, auf die ich mich immer verlassen kann. Und darüber hinaus freue ich mich auch noch einfach das zu machen, was mir wirklich am Herzen liegt - nämlich das Schreiben. Was könnte ich also mehr wollen?

Plötzlich geht alles ganz schnell, ich weiss gar nicht mehr, wie das passieren konnte.

Also ich liege auf dem Boden, ein junger Typ über mir, nicht zu bremsen, ich bin überrumpelt und denke: Das ist doch nicht wahr.

Kann der Tag noch mieser werden? Dabei ist es erst halb neun.

«Hey, gehts noch! Pass doch gefälligst auf!"», beschwere ich mich lautstark.

«Pass doch selber auf!», kommt es frech zurück.

Es dauert nur Sekunden an, aber es scheint so, als würde alles stehen bleiben, bei der Zeit und Raum keine Bedeutung mehr haben. Er grinst mich schief an, was mir Gänsehaut noch stärker werden lässt.

Sein Gesicht ist so markant, seine Stimme so unverkennbar, seine Aura so magisch.

Der Rollstuhlfahrer wirkt blass und seine Augen sind glasig, als er seinen intensiven Blick auf mich richtet.

Unsere Blicke treffen sich erneut.

Plötzlich merke ich, wie in mir ein komisches Gefühl, das ich noch nie zuvor erlebt habe, in mir aufsteigt. Ich werde total unruhig, fühle mich total unwohl und fange dann an, mich total auf meine Atmung zu konzentrieren.

Mein ganzer Körper kribbelt und mein Blut schiesst durch meine Adern. Mein Herz schlägt wie verrückt, als er mich mit seinen azurblauen Augen finster anschaut.

«Lass mich aufstehen. Ich kriege kaum Luft. „zische ich.

«Das Wort Bitte kennst du wohl nicht, blöde Tussi!»

Ich verdrehe die Augen. «Echt jetzt? Hast du wohl vergessen, wer auf wen liegt? Und zuerst entschuldigst du dich!»

«Okay, okay... Es tut mir leid, dass ich dich blöde Tussi genannt habe. Aber vielleicht kannst du mir bitte helfen, ich bin ein Krüppel!»

Ich habe Lust, Salz in die Wunde zu streuen und sage: «Bei so einem Mistkerl wie dir, kommt jegliche Hilfe zu spät.»

«Weisst du eigentlich, wie sehr du mich damit verletzt hast, Tussi?», knurrt er und rollt sich mühselig zur Seite ab. Mithilfe seines Rollstuhles richtet er sich langsam auf.

Eigentlich hätte ich ihm nicht noch mehr weh tun wollen und ich bereue meine Aussage zutiefst.

Ich gehe sofort auf ihn zu und umfasse seinen schlanken Unterarm.

«Hey. Tut mir leid. Ich wusste nicht...»

«Lass es einfach und halte deinen Mund, okay?!»

Ich schlucke schwer, als ich sein amputiertes Bein entdecke. Der Arme hat nur noch ein verdammtes Bein! Nur noch eines!

Oh Mann, wie blöd muss man sein! Ich könnte mich ohrfeigen, wenn ich daran denke.

Wortlos blicke ich ihm hinterher und sehe zu, wie er mit seinem Rollstuhl eilig davonfährt.

Tom ist neben mir aufgetaucht und hat die Arme vor der Brust verschränkt. Sofort erkenne ich, dass sein Desinteresse nur gespielt ist. In seinen dunklen Augen funkelt es begeistert. Tom grinst mich an, aber mir ist nicht nach Grinsen zumute. Da er bemerkt, dass etwas nicht stimmt, wird er ernst. «Oje, was ist denn passiert?»

BEFORE YOU SAY GOODBYE | 🇩🇪Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt