103| Feuertaufe - Øyriøn

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Wer allein mit den plagenden Stimmen in seinem vom Leben geschädigten Schädel sein will, der schleicht sich an den warnenden Plaketten mit den braunen Schleimspuren drauf vorbei und überspringt jeweils die Stufe. Erst nach 'n paar Stockwerken gelangt man schließlich auf'm Dach an, doch es lohnt sich jedes verfickte Mal, denn von hier oben sieht scheiß Neukölln gar nich mehr so scheiße aus. Und vor allem so viel kleiner. Als hätt man 'n großes Stück aus 'nem Tumor voller Teer vom jahrelangen Auf-Lunge-Rauchen geschnitten und außer Reichweite gelegt. Ich kann fast all die anderen Stadtteile von Berlin sehen. Wahrscheinlich is das Gras auf der anderen Seite grüner und das Heroin weniger braun. Die zu eng gedrehte Zigarette in meiner Hand zieht kleine Rauchschaden durch die von Abgasen belastete Luft und wird schließlich eins mit den tiefhängenden Wolken, nach denen ich um ein Haar greifen kann. Ich würd mich so gern dran hängen und mich von dem Menschen-Abfall Produkt aus'm Land trafen lassen.

»Leck mich an meinem haarigen Arsch, scheiß Neukölln!«

Brüll ich mit einem Mal durch die von Nebel und deprimierenden Gedanken vergangenen Gassen und Shelby lacht über meine Schulter hinweg, in Momenten wie diesen is sie wie sonst auch der schönste Mensch der Welt.

»Dein Arsch is nicht haarig, Oliver.« 

Lacht Shelby mit einem Mal, legt mir den Arm um die Schultern und drückt ihre Lippen sanft auf meine, die so verdammt viel rissiger sind als ihre. Dennoch bin ich für 'n kurzen Moment im Himmel. Mal eben is es fast schön, am Leben zu sein. Einzig und allein mit Shelby an meiner Seite kann ich mich selbst genug aushalten, um mir nich das Hirn wegzuballern und mich selbst in meine scheiß Atome zerlegen. Der Wunsch,  unsterblich wie Layne Staley zu sein, is stark in diesem Augenblick. Na gut, Layne Staley is gar nich wirklich unsterblich, nur durch seine Musik bleibt er bis in alle Ewigkeit unvergessen. Ich jedoch hab in meinem ganzen scheiß tumorösen und leider so rein gar nich pornösen Leben nichts vollbracht, das mich in die Köpfe der anderen von der Welt und deren Schergen geplagten Menschen gräbt wie 'n verfickter Samen auf'm Acker. Wenn man mal von der ein oder anderen ekelhaften aber in dem Fall irgendwie mehr als nötigen Aktion auf irgendeiner Absteiger-Party für ewige Jungfrauen Sukkuben, Möchte-Gern-Gesellschafts-Absturz-Opfer und alle, die's werden wollen, auch wenn mich um ehrlich zu sein nichts davon unsterblich macht. Weder das Kokain, das ich vom kotze- und vielleicht auch pissegetränken Arsch einer Prostituierten gezogen, noch die Polizei-Karre, die ich als Kind ohne Hirn und Verstand angezündet hab. Doch ich bin wie Carnage und lebe völlig unreflektiert im Moment. Denn es gibt keine Zukunft und wer sich Spritzen ins System jagt, muss damit rechnen, dass jeder verdammte Tag der letze sein könnte. Shelby, meine geliebte Punkprinzessin, die entgegen aller verfickten, läppischen Konventionen einfach die is, die sie sein möcht, betrachtet scheiß Neukölln von oben. Ich seh die Faszination in ihren sorgenschluckenden, frühlingswaldgrünen Augen. Es würd mich wahrscheinlich gar nich stören, würd ich mich darin verlieren, denn das kenn ich schon. Manchmal zeigt mir das Heroin vollkommen fremde Welten, enthält mir allerdings den Rückweg vor.

»Siehst du die Tankstelle dort unten? Da haben Pin Pin und ich uns recht oft Vodka geklaut, wenn wir keinen mehr hatten. Und an der vierten Zapfsäule hatte er seinen ersten Schuss. Und danach 'n sprühenden Schiss des Todes.«

Erzähl ich Shelby grinsend und zeig mit meinen widerlich krummen Fingern zur Tankstelle, die direkt gegenüber der alten Fabrikhalle liegt. Schon grotesk, wie gelb meine Griffel übe die Zeit geworden sind. In 'ner Pfütze neben den Zapfsäulen schwimmt Benzin, der einzige Regenbogen, den man hier in scheiß Neukölln jemals zu sehen bekommen wird, wenn man nich grad abhängig is. Mein halbes, verficktes Leben war bis jetzt 'n Regenbogen. Nur nich so schimmernd schön. Dennoch jag ich 'nem krebsigen Tumorstern am Nadelhimmel, bedeckt von Spritzensternen, auf der Suche nach 'nem verfickten Topf voll Gold. Stattdessen find ich bloß 'n hässlichen Kobold mit wild vom Schädel abstehenden Haaren, der mir jedes verdammte Mal aufs neue Heroin verkauft. Und ich hab's geliebt. Scheiße, ich liebe es immer noch. Nur Shelby is mir wichtiger.

Die üblichen Verdächtigen [✓]Where stories live. Discover now