93| Flatterfotze - Tonic

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Es ist eine lange Zeit vergangen. Vielleicht Stunden. Vielleicht Tage. Vielleicht Jahre. Aber wahrscheinlich waren es nur Minuten. Doch wen interessiert das schon? Mich ganz bestimmt nicht, denn Zeit ist für mich einzig und allein ein Konstrukt, die dazu genutzt wird, um sich ein wenig zu orientieren. Und mir geht das alles so ziemlich am Arsch vorbei, ich schäme mich noch nicht einmal dafür. Schon in der Schule konnte ich im Gegensatz zu all den anderen Flatterfotzen den Mut aufbringen, mich vor den Lehrern zu behaupten. Ihnen die Frage zu stellen, ob es denn nun wirklich ein Problem war, ob ich den nach Pisse stinkenden Klassenraum um halb acht oder zwei verfickte Minuten später betrat. Sie versuchten mir immer alles etwas davon zu erzählen, wie sehr ich die Pünktlichkeit später einmal brauchen würde. Und ich grinste nur, bevor ich sie fragte, ob dies in vier Jahren und genau fünf Minuten oder drei Sekunden später eintreffen würde. Schon lustig, dass ich in meinem späteren Beruf manchmal noch Zeit für einen Fick im Auto hatte und nicht einmal dafür angeschissen wurde. Wer braucht schon die Schule, wenn man ein Überlebenskünstler ist?

Charlie schmiegt sich an mich und zuckt im Schlaf, als hätte sein Vater wieder Hand angelegt. Mein Gott, diese arschgefickte Missgestalt hätte ich niemals treffen dürfen, das wäre für ihn nicht besonders gut ausgegangen, würde ich meinen. Vater zu sein bedeutet, sein Kind zu beschützen und es nicht bis in den Tod zu traumatisieren. Ich halte Charlie einfach fest. Meine Fingernägel würden sich unter Umständen in sein Handgelenk graben, wären sie nicht so abgebrochen. Trotzdem fällt mein Blick auf die weißlichen Narben. Verblasst wie Charlotte. Es gibt nur noch Charlie und das ist auch gut so. Als 'sie' hätte er ganz bestimmt niemals glücklich leben können. So viel Schuld auf seinen fragilen Schultern, dass ich mir so sehr wünsche, ihn auf irgendeine Art und Weise zu entlasten.

Manchmal scheint es mir ganz so, als wäre ich dafür bestimmt, ein kleines, unbedeutendes Staubkorn auf dieser Welt zu sein und Charlie wimmert schon wieder im Schlaf. Ich spüre, wie mir das verfickte Herz in der Brust schmilzt. Die Flüssigkeit aus Gewebe und Spucke sickert in meine Adern und ich kann rein gar nichts dagegen unternehmen. Langsam aber sicher lässt die trügerische Wirkung vom Heroin nun auch bei mir nach und um ehrlich zu sein könnte ich in diesem Moment an die Decke gehen, doch ich reise mich einfach zusammen, damit ich Charlie nicht aufwecke und das, obwohl sich die Wände um mich herum gerade schälen und dahinter all die eingemauerten Schädel entblößen. Mir wird fast schlecht, der leicht süß saure Geruch der in sich selbst zerfallenden Leichen wirkt zu real, um einzig und allein eine Halluzination zu sein. Doch ich weiß, dass es eine ist und ich ein verdammter Junkie bin, der jetzt endlich zurück in die Realität reisen muss, um sich nicht in seiner Blase aus Arroganz zu verlieren.

»Hier drin werden Sie die nächsten paar Tage, vielleicht sogar Wochen, verbringen. Machen Sie es sich also gemütlich und fangen Sie keinen Streit mit Ihren Zimmergenossen an.«

Reißt mich allerdings mit der einem Mal die Stimme von Matze, dem Leiter dieser Anstalt, aus meinen Gedanken und ich hebe überrascht den Kopf. Was soll denn der Scheiß hier? Hat man in diesem verfickten Raum nicht einmal seine Ruhe? Matze steckt den Schädel ins trostlose Zimmer und zieht verwundert die Augenbrauen hoch, als er erkennt, dass Charlie den Kopf in meinem Schoß liegen hat und leider nicht ganz so selig schläft. Neben dem Mann mittleren Alters, der sich den kläglichen Rest seiner blonden Haare am Hinterkopf zu einem Zopf zusammen gebunden hat, steht auch noch eine arme Wurst mit schattigem Drei-Tage-Bart und einer Art dreckig blondem Vokuhila. Wahrscheinlich ist der seltsame Kerl hier dann wohl oder übel unser Zimmergenosse, der vorhin erwähnt wurde. Ich komme einfach nicht umhin, ihn zu mustern. Wie fremdartig er aussieht, auf dem Schulhof hab ich solche Leute immer bespuckt. Hab ich wirklich, das ist keine Lüge. Einmal hing der kleine Nerd mit seiner übergroßen Brille über dem Zaun und schrie wie am Spieß. Meine Leute und ich haben uns um ein Haar bepisst vor Lachen. Ich war ihr Anführer, weil sie sonst niemanden kannten, der sie mal so richtig navigieren konnte. Wenn ich ihnen sagte, sie sollten springen, fragten sie, wie hoch und wenn ich sie bat, jemandem ein Messer zwischen die Rippen zu rammen, wollten sie wissen, wie viele Stiche ich mir zu sehen erhoffe.

Die üblichen Verdächtigen [✓]Where stories live. Discover now