92| Schwerelos - Charlie

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Ich hab kein Gewicht und mir kommt es auf irgendeine kranke Art und Weise schon wieder so vor, als wär ich gar nich so richtig hier und auch nich fort. Es könnt doch 'n Traum sein, aber dafür is das alles hier viel zu real. Die Flure riechen nach Infektion und Hoffnungslosigkeit. Ich will hier nicht sein. Das is 'ne Anstalt, kein Ort, an dem einem auch nur irgendwie geholfen wird. Was sollen diese Leute denn schon über uns wissen? Tonic hat meine Hand ergriffen, er hilft mir eher. Seine bloße Anwesenheit is Kur genug für mich, lasst mich doch alle in Ruhe, was soll schon aus mir werden, wenn ich in einem dieser Zimmer hock und keinen Kontakt mehr hab zu all den Menschen, die ich eigentlich schon immer zu ignorieren versucht hab? Wir haben uns also in der Tat hier eingeschrieben. Kalter Entzug. Jetzt wird's ernst. Ich hab Angst und mir läuft der Schweiß über die Stirn, fast wie in scheiß Sturzbächen, ich hab außerdem das Gefühl, ich fall gleich noch tot um. Schön wär's, dann müsst ihr hier nich bleiben. Tonic schaut mich mit festem Blick an.

»Charlie, das hier ist dann wohl oder übel unser Zimmer für die nächsten Wochen. Nicht gerade luxuriös, aber immerhin... äh... naja... ein Zimmer halt, was soll ich daran gut reden?«

»Versuch's erst gar nicht, nimm es dir stattdessen zu Herzen, dass ich hier bin und nich zu Hause. Ohne dich wär ich nämlich überhaupt nich auf diese beschissene Idee gekommen.«

Das Bett, auf dem ich um ehrlich zu sein gegen meinen Willen sitz, is ungemütlich, als würd ich auf 'nem Haufen Steinplatten Platz nehmen und erst gar keinen Gedanken daran verschwenden, mir 'n scheiß Kissen unter den lädierten Arsch zu legen. Ich merk jetzt schon irgendwie, dass mir in ein paar Tagen das Kreuz brennt, bis ich mir wünsch, zu sterben. Leck mich doch am... dort, wo die verfickte Sonne nich hin scheint. Uns wurde vorhin noch erklärt, dass uns bald noch 'ne dritte Person Gesellschaft leisten wird, die wir mit zunehmender Sicherheit nich kennen werden. Jemand, mit dem wir diesen scheiß Entzug zusammen durchstehen sollen. Ich bin so müde vom bloßen Leben in Momenten wie diesen und Tonics Nachbar hat meine Katze. Er soll's sich bloß nich wagen, nich gut auf Muschi aufzupassen, dann komm ich rüber und tret ihm in den Arsch. Jedenfalls werd ich's in dem Fall versuchen, was zu einer sehr hohen Wahrscheinlichkeit wohl oder übel nach hinten losgeht, denn ich hab keine Kraft und bin nun schon den ganzen Tag über echt mies drauf. Hatte seit gestern Abend keinen verfickten Hit mehr und fühl mich natürlich auch dementsprechend. Wie gefressen, ausgekotzt und wieder zu 'ner menschlichen Form gebügelt. Wie das, was das Leben eigentlich schon immer mit mir anstellt. Mit einem Mal lächelt Tonic, obwohl er die ganze Fahrt über nich ein einziges Wort gesagt hat.

»Und das schätze ich sehr, ganz ehrlich. Du wirst sehen, uns wird es zwar ein paar Tage lang scheiße gehen, aber das wird es wert sein. Diese Welt hat nämlich mehr zu bieten als Schwänze, Titten und Stoff. Hoffe ich jedenfalls.«

»Ich werd den Verstand verlieren und meinen Vater ganz bestimmt wieder sehen. Davor hab ich allerdings echt Schiss, verstehst du? Ich will nich verrückt werden und all das nochmal durchmachen, was ich jetzt so mühevoll aufgearbeitet hab. Die scheiß Narben sind gerade erst verheilt und deshalb noch nich mal weg.«

Geb ich zu bedenken und verschränk fast schon trotzig die Arme vor der Brust. Mein Hirn tropft in diesem Moment nur so 'n bisschen durch meinen sonst vollkommen leeren Schädel und der Rest meines Körpers scheint gegen den reinen Sauerstoff im Blut zu rebellieren, denn ich bin jetzt schon 'ne ganze Weile bloß am Zittern. Tonic verzieht mitleidig das Gesicht, als würd er entweder gleich zu heulen anfangen oder sich einscheißen und steht mit unruhigen Knien auf. Das könnt ich um ehrlich zu sein in diesem Augenblick wirklich gebrauchen. Einfach 'ne Umarmung, funktionierend wie 'ne warme Decke an kalten Tagen, an denen es stürmt und man sich davor fürchtet, dass das eigene scheiß Haus am nächsten Morgen nach dem Sturm kein Dach mehr hat. Immer wenn ich als kleines Kind heulte, freute sich mein Vater bestimmt innerlich, auch dann, wenn's eigentlich gar nich sein Verdienst war. Es gefiel ihm einfach, wenn ich weinte und wenn ich schrie, er solle aufhören. Nicht, dass er das jemals getan hätte. Er ließ sich nie beirren und wenn er nur die Hand nach seinem Flachmann ausstreckte, zuckte ich schon zusammen. All der Tabak unter seinen vergilbten Fingernägeln und die langsam aber sicher in seiner scheiß Mundhöhle verfaulenden Zähne. Sein warmer Atem in meinem Nacken und diese Art und Weise, wie er immer mit mir sprach. Als könne er schon beim Reden seinen Schwanz nich kontrollieren. Als ich den Kopf wieder heb, sitzt Tonic neben mir auf der lieblos ausgerollten Matratze in diesem beschissen ungemütlichen Bett.

»Ich weiß, ich weiß, aber wir sind beide krank. Du im Kopf und ich am Magen, wir müssen aufhören, wenn wir noch was von der Welt sehen wollen. Schau doch nicht so, sonst muss ich noch heulen.«

Seine Stimme bricht ab wie ein kleines Stöckchen zwischen den malmenden Kiefern eines riesigen Hundes, der einzig und allein darauf aus is, zu töten und zu schaden und Tonic schließt mich einfach in die Arme. Er vergräbt das Gesicht an meiner Halsbeuge und atmet mir ruhig ins Genick. Als hätt ich vorher nich auch schon gezittert, doch ich will mich mal nich beschweren. Tonic heult mir ohne jedes Geräusch in den Pullover und krallt sich in den Stoff, so hab ich ihn ehrlich gesagt noch nie erlebt und ich kenn ihn jetzt schon wirklich lang. Vielleicht sogar länger als es manch anderer auf der Straße aushalten würde. Aber das weiß ich nich sicher, mir is nur klar, dass ich wahrscheinlich die einzige Person in Tonics Leben bin, die sich jemals ununterbrochen so lange mit ihm beschäftigt hat, ohne dass er sie irgendwann nich mehr sehen will. Na gut, abgesehen von dieser einen Tussi, die wir neulich noch im Park getroffen haben. Hieß sie nich Oksana? Keine Ahnung, ich weiß nur noch, dass ich mein Russisch sonst noch nie gebraucht hab. Und wie schrecklich dünn sie war. Aber kein Wunder, denn Tonic würd wahrscheinlich zur Not auch 'n Kaktus ficken, wenn's ihm im Schwanz juckt, wie Øyriøn mal sagte. Ziemlich treffend eigentlich und meine Gliedmaßen zittern wie die Flamme eines Feuerzeugs, wenn man sich im Wind unbedingt 'n Schuss aufkochen muss wie es mir jetzt schon das ein oder andere Mal passiert is. Tonic streicht mir aus heiterem Himmel beruhigend über den Rücken und fängt damit an, irgendein scheiß Lied in mein Ohr zu summen, das ich gar nich kenn. Vielleicht Blues oder so, klingt jedenfalls so und es hilft meinem Herz dabei, nich mehr zu schnell zu schlagen.

Ich lass mich einfach nach hinten fallen und rutsch über die harte Unterlage, auf der ich später nich wirklich schlafen will, bis mein Schädel in Tonics Schoß liegt und er mit Tränen in den Augen auf mich hinunter sieht. Er wirkt so verdammt traurig und dennoch verziehen seine rissigen Mundwinkel sich mit einem Mal zu 'nem Lächeln, das mir das Herz erwärmt. Unglaublich, dass er noch immer all seine Zähne hat und dann sind sie nich mal gelblich, sondern fast reinweiß. Auf irgendeine mir unerklärliche Art und Weise is Tonic schon dieser eine Typ, der im Mittelalter als Hexe auf'm Scheiterhaufen gestorben wär, denn das is einfach unmöglich. Mir is noch gestern Abend 'n Schneidezahn ausgefallen und ich hab's gar gemerkt. Entweder sind meine Nerven derart betäubt vom jahrelangen Heroinkonsum oder ich bin schlicht und ergreifend schlimmeres gewohnt als das leichte Ziehen, das ich verspürt hab, als mein Zahn sich dafür entschied, nich mehr zu mir gehören zu wollen. Schon tragisch, wenn einen der eigene Körper für so abstoßend hält, dass er sich einfach selbst zersetzt. Manchmal hab ich in der Nacht Angst zu sterben, weil mein Herz entweder zu schnell oder zu langsam schlägt und mein restliches System sich daran anpasst. Als hätt nicht ich, sondern mein Nerven- und Muskelgebilde manische Depressionen, die mal schrecklich und mal eher nur 'ne kleine Erkältung sind, die sich ganz leicht aushalten lässt. Tonic legt die Hand auf meine Wange, es klebt kein Tabak unter seinen abgekauten Fingernägeln und auch sein Bart is längst nich so schattig wie der von Vater.

»Wir beide kriegen das schon irgendwie hin, Charlie. Schließlich haben wir es auch geschafft, uns zu zerstören und das braucht Mut.«

Welche Stadt sollten Charlie und Tonic eurer Meinung nach auf ihrer Reise eigentlich zuerst besuchen?

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Welche Stadt sollten Charlie und Tonic eurer Meinung nach auf ihrer Reise eigentlich zuerst besuchen?

Die üblichen Verdächtigen [✓]Where stories live. Discover now