74| Traumata - Tonic

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»Weißt du, manchmal würde ich wirklich gern wissen, was in dir vorgeht. Du krampfst schon wieder.«

Es ist nicht übertrieben, Charlie wirkt, als hätte er einen verschissenen Herzinfarkt neben mir, weil das Kokain ihm das Heroin aus dem Schädel fickt. Ich bin mir nicht sicher, ob er zittert, oder ob das nur ich bin, aber es sieht mir danach aus, dass wir beide vom Leben so ziemlich in den Arsch gefickt wurden. Charlie natürlich eher als ich. Er musste damals schließlich seine Gründe gehabt haben, um sich einen Schwanz annähen zu lassen, der deprimierenderweise einen Tick größer ist als meiner. Und das, obwohl ich nach wie vor mit Pferden mithalten könnte. Ich weiß noch, wie man mir in meiner Anfangszeit als Fixer erzählt hat, dass einem vom Heroinkonsum irgendwann der Schwanz abfällt und vorher komisch lila wird. Solchen Scheiß hab ich noch nie gehört und ich muss mich auf was anderes konzentrieren. Ich will mich nicht damit beschäftigen, was das Heroin mir antun könnte, weil ich gern verdränge. Das ist es doch, was Junkies tun.

»Was heißt hier schon wieder? Ich hab nie damit aufgehört.«

Meint Charlie und fängt zu lachen an, sein Kopf liegt in meinem Schoß und er schaut zu mir auf. Warum auch immer sind wir im Nachhinein noch in seine Bude gegangen. Anfangs nur, um seine bescheuerte Katze zu füttern, dann hab ich ein wenig Braunes in einer alten Jeans gefunden, die schon von allein stehen konnte. Jetzt sind wir beide etwas geflasht und das Tourniquet hab ich mir um den Hals gehängt. Scheiße, Charlies Ranzbude ist echt widerwärtig und alles hier drin stinkt nach einer erbärmlichen Mischung aus Frittenfett und nassem Hund. Die Tapeten sind in den Ecken vom Schimmel befallen und wahrscheinlich wollen nicht mal die Kakerlaken hier drin sein. Diese ganze Wohnung ist irgendwie jedes verfickte Klischee, das man im Kopf hat, wenn man an Junkies denkt. Und auf dem kleinen Schrank steht eine massive Urne. Sie ist fest verschlossen und lacht mich höhnisch an. Wessen krosse Leiche steckt dort drin?

»Nein, ernsthaft, was ist los mit dir? Und wer ist der Typ in der Keksdose da?«

»Mein Vater is das. Was für'n Wichser er war, bin froh, dass er endlich tot is. Es war 'n Albtraum mit ihm.«

Erklärt mir Charlie seltsam kurz angebunden und zieht sich eine abgebrochene Nadel aus dem Handgelenk. Die Venen in seiner Armbeuge waren vorhin schwer zu finden. Entweder das, oder ich war schon zu besoffen, denn die Pestkönigin hatte noch etwas von ihrem guten, alten Grey Goose Wodka, den sie mit uns allen teilen wollte. Nett von ihr, ich steh ja ohnehin auf Französisch. In jeder Hinsicht, also warum kein französischer Wodka zum Abschluss eines guten Tages? Charlie dreht sich zur Seite und hört auf, mich anzusehen. Was soll der Scheiß? Vielleicht gefällt es mir, wie verschwitzt und blass zugleich sein Gesicht ist, wenn er H inne hat und unter Umständen mag ich es, wie milchig gelb seine Augäpfel sind. Etwas seltsame Attribute, um ihn zu beschreiben, aber scheiß drauf, wir sind zwei seltsame Typen, die eine seltsame Beziehung führen. Ist es überhaupt eine Beziehung? Oh, Fick noch eins, natürlich.

»Warum das, hat er getrunken? Meinen Alten hab ich nur einmal besoffen erlebt, da fiel er die Treppe runter und schrie mich an, ich solle nicht lachen, aber es sah so verfickt lustig aus.«

»Es war nich die scheiß Tatsache, dass er getrunken hat. Klar, er stank nach Jägermeister, aber das wär okay gewesen, hätt er nicht...«

Charlie spricht leider nicht mehr weiter, stattdessen zieht er die dürren Beine an und seufzt herzerweichend. Verdammt, das ist echt heftig. Es zerreißt mich fast, ihn so zu sehen. Schlimmer wäre es nur, wenn ich sein hübsches, trauriges Gesicht von vorn betrachten müsste. Was ist bloß mit ihm passiert? Sein Vater hat getrunken, gut, aber das macht ihn ja nicht gleich zu einem schlechten Menschen. Ich bin bis zur Kante voller Heroin, da muss ich doch irgendwie für all die Alkoholiker dieser verschissenen Welt einstehen. Und das, obwohl das wirklich nicht leicht ist, wenn man mal dran denkt, was man sich so alles für armselige Wurstgesicher anschauen darf, wenn man zum Treffen der Anonymen Alkoholiker geht. Ich war erst einmal dort, mit neunzehn, um meinen Onkel Rasputin abzuholen. Was für eine verfickte Scheiße, ich hatte zu der Zeit gerade erst den Lappen bekommen und jeder wollte sich davor drücken, sich mit Rasputin zu beschäftigen. Ich weiß ja nicht, meiner Meinung nach war er allerdings immer ganz nett. Vorsichtig lege ich Charlie eine Hand auf die Schulter und er dreht sich zu mir um.

»Hätte er nicht was? Komm schon, sag es mir, ich hab den Anderen vorhin auch gebeichtet, dass du mir verdammt wichtig bist. Was hat dein Vater getan, Charlie?«

»Er... er... als ich noch 'n bisschen jünger war, kam er öfter mal in mein Zimmer, wenn er getrunken hatte und... naja.«

Langsam wischt er sich über die Augen und setzt sich auf. Was zur verfickten Hölle soll das? Warum kann er mir denn nicht einfach sagen, was passiert ist? Es wird ja wohl nicht so verdammt schrecklich sein, dass man nicht darüber sprechen kann, oder etwa nicht? Scheiße, ich will es doch auch wissen. Charlie lässt den Kopf kraftlos auf meine Schulter sinken, während seine Katze uns wie ein kleiner Stalker mit Schnurhaaren beobachtet. Es ist schrecklich, wenn Charlie so heult und er soll damit aufhören, doch es wird nicht besser. Eher schlimmer. Wie die ganze, verschissene Abhängigkeit, in der wir uns verlaufen haben, weil selbst der Kompass uns irgendwann aufgegeben hat. Und das ist okay, schätze ich, wir brauchen seine Hilfe nicht. Wir brauchen niemanden, denn wir sind Junkies und können auch von allein verrecken. Ich lege einen Arm um Charlies knochige Schultern und er zuckt zusammen, als hätte ich ihn geschlagen. Scheiße, das würde ich nie tun. Früher haben wir uns allerdings sehr oft geprügelt, weil wir beide hacke waren und nicht akzeptieren wollten, dass es keinen Weg nach vorn gibt. Es war immer unser Ziel, mit dem Kopf zu die Wand zu rennen.

»Charlie, sag mir endlich, was er getan hat, verdammt nochmal.«

»Er hat mich vergewaltigt, okay? Mehrmals. Ich wollte kein Mädchen sein, is alles seine verdammte Schuld, jetzt weißt du's.«

Flennt er mir entgegen und seine Stimme zittert wie ein an Parkinson erkrankter, alter Mann. Mein Blick fliegt an ihm vorbei zu der verfickten Urne hin, die mich jetzt nur noch mehr anzulachen scheint. Dort steht der verschissene Vergewaltiger von Charlie. Mein Gott, hätte ich ihn gekannt, wahrscheinlich hätte ich ihn umgebracht. Ohne Gnade, denn die sollte es für einen Kinderficker nicht geben. Charlie fängt jetzt wirklich an zu heulen und vergräbt das Gesicht an meiner Brust, ich weiß nicht, was ich tun soll, um ihn irgendwie zu beruhigen. Diese Erkenntnis ist wirklich neu, aber deshalb nicht minder erschreckend für mich. Ganz ehrlich, das hätte ich niemals für möglich gehalten. Charlie wirkte immer, als wäre er einfach ein normaler Typ. Zwar einer, dessen Schwanz erst im Nachhinein nach einer jahrelangen Hormontherapie hinzugefügt wurde, doch was war dann auch schon alles an ihm, das etwas ungewöhnlich schien. Ich bin völlig überfordert und alles, wozu ich in diesem Moment noch fähig bin, ist es, leise und verstohlen mit Charlie zu weinen. Es ist die erste Träne seit so verdammt vielen Jahren, die über meine Wange rollt und schließlich in Charlies wirren Haaren verschwindet. Seine Wirbelsäule liegt in meiner Hand wie eine teure Perlenkette und ich kann spüren, wie seine Rippen sich vom Rest seines zerstörten Körpers absondern wollen.

»Es tut mir wirklich so verdammt leid, was dir da angetan wurde. Deinen Vater hätte ich ganz gerne kennengelernt, um ihm die Fresse zu polieren. Wahrscheinlich hätte ich ihn umgebracht, doch dafür wäre ich gern in den Bau gewandert.«

»Hör auf damit, Tonic. Bitte. Sag für ' paar Minuten einfach gar nichts.«

Schluchzt Charlie gegen den Stoff meines nach Verderben stinkenden Pullover und ich tue ihm den Gefallen. Im ganzen Raum herrscht eine solche Stille, dass man denken könnte, wir sind tot. In diesem Moment sind wir es auch irgendwie, jedenfalls innerlich. Scheiße, ich will mir nicht vorstellen, was dieser ekelhafte Mensch getan hat und doch lässt es nicht verhindern, dass sich in meinem Kopf ein Bild auftürmt, wie ein kleines Mädchen sich elendig heulend in seinem Bett verkriecht, um sich zu verstecken. Und wie es anschließend versucht, sich den Ekel unter der Dusche von der Haut zu waschen, bis es bemerkt, dass dieses widerhafte Schamgefühl sich bereits unter das entzündete Fleisch gegraben hat. Deshalb auch die vielen, geraden Narben, die sich neben den alten Einstichen über Charlies Arme ziehen. Könnte ich ihm seinen Schmerz nehmen, mein Gott, ich würde es tun.

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Die kleine Grafik am Ende lasse ich die nächste Zeit besser weg, damit Wattpad mich wenigstens veröffentlichen lässt. 

Findet ihr auch, dass Tonic langsam immer empathischer wird?

Die üblichen Verdächtigen [✓]Where stories live. Discover now