12 - Ankunft - Teil 2

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Knapp einen Monat später holte Daniel seine Liebste von der Schule ab. Er war gerade vom Arzt zurück. Dort hatte er sich einen gelben Zettel für den heutigen und den morgigen Tag geholt. Er wusste, dass Emma dagegen war, aber das war ihm egal. Er würde sich ohnehin nicht auf den Schulstoff konzentrieren können, wenn er wusste, dass sie seine Liebste in den OP schoben und sie an ihrem Kopf operierten.

Also war er zu seinem Arzt und hatte ihm offen und ehrlich gesagt, was Sache war. In zwei Tagen waren Ferien. Da würde er auch nicht mehr viel Stoff verpassen. Also konnte er die nächsten Stunden genauso gut mit Emma verbringen, die ohnehin zwischen Zweifel und Euphorie hin- und hergerissen war. Obwohl sie so tat, als wäre sie vollkommen gelassen, merkte er ihr an, dass sie Angst hatte. Nicht etwa wegen des Narkoserisikos oder den OP-Risiken, sondern davor, wie ihr Umfeld auf eine Cyborg-Emma reagierte, wie sie ihr künftiges Ich jetzt nannte.

Er schaute auf die Uhr und überlegte, ob er irgendwas vergessen hatte. Er hatte vor, in den nächsten Tagen so viel Zeit wie möglich bei seiner Liebsten im Krankenhaus zu verbringen, weshalb er sich auch für Samstag Urlaub genommen hatte. Johann hatte das verstanden. Denn er trug selbst ein CI und hatte gemeint, dass Emma jede Hilfe brauchen würde, die sie bekommen konnte. Es war nicht ganz so einfach, das Hören zu erlernen, hatte er gesagt.

Johann selbst hätte nach der OP schwere Migräne- und Schwindelattacken gehabt, die sich aber gegeben hatten, nachdem sich sein Gehirn an die vergessenen Reize gewöhnt hatte, hatte er ihm erzählt. Vergessen deshalb, weil Johann nicht von Geburt an taub gewesen war. Er hatte sein Gehör aufgrund einer Gehirnhautentzündung verloren, als er zwölf gewesen war. Für ihn war die Lautsprache seine Muttersprache und DGS die Fremdsprache, die er erlernt hatte, nachdem klar war, dass er taub bleiben würde. Erst später war ihm ein CI implantiert worden. Er genoss die Gespräche mit Johann.

Denn er war wie Emma, nur umgedreht. Daniel war erstaunt gewesen, als ihm sein Chef so nebenbei erzählt hatte, er sei so ein zwischendrin. Halb gehörlos, halb hörend. So charakterisierte Emma ihre Zukunft. So fühlte sie sich jetzt schon. Aber Johann hatte einen anderen Blick auf das Thema. Er hatte Daniel erzählt, als er damals ertaubt war, hatte es noch keine Hilfsmöglichkeiten für Gehörlose gegeben. Nur Hörgeräte, die jedoch nur halfen, wenn man Restgehör hatte. Was bei ihm nicht der Fall gewesen wäre. Also hatten seine Eltern lange gesucht, bis sie jemanden fanden, der ihm DGS beibrachte, denn die deutsche Gebärdensprache war zu dem Zeitpunkt noch nicht als eigenständige Sprache anerkannt gewesen. Seine Eltern hätten damals Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt und selbst auch DGS gelernt, damit sie sich akkurat mit ihm unterhalten konnten. Eine Versorgung mit einem CI lehnten seine Eltern jedoch ab. Denn ihnen war der Eingriff am Kopf nicht geheuer. Das holte Johann nach, nachdem er seine Ausbildung abgeschlossen hatte. Aber noch immer haderte er damit, wie schwer es seine Eltern damals gehabt hatten, Hilfe für ihren spätertaubten Sohn zu bekommen. Deshalb hielt er DGS-Kurse an der VHS, seit die Gebärdensprache als eigenständige Sprache anerkannt war.

Daniel sah auf die Uhr und seufzte. Wo blieb Emma nur? Ach, da kam sie ja. Weinte sie? Ja. Ebenso wie ihre beste Freundin, der sie ihren Arm um die Hüften geschlungen hatte. Melina stand jetzt zwar hundertprozentig hinter Emmas Entscheidung, aber offenbar waren die Emotionen heute etwas hochgekocht. Als ihre Vertraute ihn entdeckte, hob er nur die Hand zum Gruß und sie grinste schief. Ehe sie ebenfalls grüßte und als Emma ihrem Blick folgte, lächelte sie leicht.

Er überquerte die Straße und begrüßte Melina, die gebärdete: „Blauauge, du musst mir versprechen, dass du auf meine Freundin aufpasst, ok? Mist, gleich heul ich wieder."

„Mir passiert nichts, Melina. Hi, schöner Mann", erklärte Emma, wischte sich über die Wangen und drückte ihm einen Kuss auf.

„Das sagst du einfach so. Ich hab gegoogelt. Ich weiß, dass das eine blöde Idee war. Aber jetzt hab ich die ganzen Risiken vor Augen und mach mir Sorgen", gestand Melina augenverdrehend und Emma schüttelte den Kopf.

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