4 - Klarheiten - Teil 2

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Erneut sah er ihr erstaunt hinterher und setzte ihr dann nach. Er tippte ihr auf die Schulter und automatisch wandte sie sich ihm zu.

„Was ist los? Ich verstehe nicht", gebärdete er.

Sie zuckte mit den Schultern und erwiderte lautsprachlich: „Kann ich so nicht erklären. Zu viele Gedanken zu übersetzen."

Daniel nickte verständnisvoll. Er nahm ihre Hand in seine und zog sie in das kleine Parkcafé, wo er ihr das Telefon in die Finger drückte und sie fragend ansah. Er hatte sich neben sie gesetzt, damit er mitlesen konnte und merkte, dass die Enttäuschung regelrecht in Wellen von ihr ausging. Sie hatte definitiv kein Pokerface. Auch etwas, das er an ihr mochte.

Da sie immer noch kein Wort getippt hatte, berührte er ihren Arm und gebärdete: „Erklär's mir, bitte."

Emma seufzte und kleidete ihre Emotionen in Worte: „Ich weiß im Grunde gar nicht, worüber ich mich aufrege. Es ist mein Fehler. Immer wenn ich mit dir zusammen bin, vergesse ich, dass ich genau genommen ein Fremdling in der Welt der Hörenden bin. Dass ich nie komplett dazugehören werde. Ebenso wenig wie du in meine Welt. Du wirst immer der Hörende sein, der zu mir gehört und anders herum ist es genauso. Ich will das nicht. Ich wollte noch nie ausnahmslos darauf reduziert werden, dass ich gehörlos geboren worden bin. Versteh mich nicht falsch. Es ist ein Fakt und es ist ok. Ich weiß nicht, wie es ist, Töne wahrzunehmen. Aber in erster Linie bin ich ebenso Mensch, wie du oder der Mann auf der anderen Straßenseite. Das wird nur immer übersehen. In meiner Gemeinschaft ist es jedoch nicht recht viel anders. Unter den ersten zehn Fragen, die dir gestellt werden, ist die nach deinem Hörstatus. Wieso kann keiner verstehen, dass wir Menschen sind, egal ob mit oder ohne Hörsinn?"

Sie wurde unterbrochen, als die Bedienung kam und nach ihrem Getränkewunsch fragte und Emma zeigte erstmals Ungeduld, seit er sie kannte, als sie mit schleppender Zunge ihre Bestellung aufgab. Sie war ordentlich aufgewühlt, erkannte er. Er orderte ebenfalls und vertiefte sich wieder in den Text, den sie in der Zwischenzeit getippt hatte.

„In meiner Welt heißt es dann, ob ich mich für meinen Status schäme, aber das tue ich nicht. Sie verstehen nicht, dass ich mich nicht damit zufriedengeben kann, für alle – auch für sie – die Gehörlose zu sein. Ich bin nicht allein, wir haben eine tolle Gemeinschaft, doch es gibt so viel mehr. Ich würde unsere Sprache, unsere Kultur und unsere Welt auch nicht missen wollen, aber ich will nicht darauf reduziert werden. Du tust das nicht. Bei dir habe ich zum ersten Mal das Gefühl, ich sei mehr. Es ist oft nicht leicht, taub zu sein. Im Gegenteil: Es kann gefährlich sein. Im Straßenverkehr zum Beispiel. Ich höre keine Autos hupen, keine Tram-Bahnen, Busse oder LKWs, doch dafür habe ich ein größeres Sichtfeld. Ich habe gelernt, meinen fehlenden Hörsinn, mit den Augen und dem Körper auszugleichen. Ich weiß, wann die U-Bahn einfährt, weil ich den Fahrtwind spüre. Ich habe dein Lachen vorhin nicht gehört, aber ich habe die Vibration davon auf meinem Gesicht gefühlt. Das war neu für mich und das werde ich wohl nie wieder vergessen. Doch zurück zu den Gefahren: Ich muss immer dafür sorgen, dass mein Handy geladen ist, damit ich um Hilfe bitten kann, falls ich alleine unterwegs bin und niemand in Sichtweite ist. Ich kann um Hilfe rufen, aber ich höre die zugehörige Antwort im schlimmsten Falle nicht, wenn ich das Gesicht nicht sehen kann. Ich komme damit klar, wirklich. Womit ich nicht klarkomme, sind Intoleranz und Verunsicherung von beiden Seiten", endete sie.

Sie drückte ihm unwillig das Telefon in die Hand und sah gedankenverloren durch die Gegend, während Daniel überlegte, was er antworten sollte. Er warf ihr immer wieder einen Blick zu und versuchte zu ergründen, wie er sie trösten sollte. Sie wirkte so verloren im Moment. Die Bedienung brachte die Getränke und Daniel bedankte sich in DGS dafür, während Emma weiter vor sich hin brütete.

Endlich fiel ihm etwas ein und er schrieb: „Dann heißt es wohl: wir gegen den Rest der Welt(en). Denn ich sehe definitiv mehr in dir. Du bist schlau, hübsch, einfühlsam, humorvoll, gerechtigkeitsliebend, Umweltschützerin und lässt mich vergessen, dass ich kein normaler 18-Jähriger bin. Du gibst mir das Gefühl, ein vollwertiger und wertvoller Teil der Gesellschaft zu sein, für den man sich einsetzt, den man schätzt und sogar respektiert. Dieses Gefühl hatte ich seit drei Jahren nicht mehr. Durch dich fange ich wieder an, an mich zu glauben. Daran, dass ich nicht so schlecht bin, wie mein Umfeld es mich glauben macht. Ich habe nicht viele Freunde. Sie verstehen mein Leben nicht, denn sie müssen sich nicht mit meinen Problemen herumschlagen. Sie müssen keinen Nachweis dafür erbringen, dass sie berechtigt sind, Zahlungen von einem Amt zu bekommen. Ich habe jedes Mal das Gefühl, Abschaum zu sein. Doch das ist meine Welt, nicht ihre. Sie versuchen, mich zu verstehen, das tun sie jedoch nicht. Aber ich verstehe dich, wenn auch aus anderen Gründen."

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