3 - Kennenlernen - Teil 3

147 30 94
                                    

In der Zwischenzeit saß sie in der S-Bahn und starrte blicklos aus dem Fenster. Ihre Gedanken rasten. Sie war glücklich, doch zugleich total verunsichert. Würde die Sprachbarriere zum Problem werden? Und jetzt konnte sie wohl kaum länger mit Daniel hinterm Berg halten. Sie würde ihrer Umwelt von ihm erzählen müssen. Wie würde diese auf die Nachricht reagieren, dass sie mit einem Hörenden zusammen war? Klar, er gab sich Mühe, das Sprachproblem zu lösen, und er übte viel, war interessiert und gebärdete ganz gut. Mit mehr Übung würde er besserwerden, doch in ihrer Welt war er der Außenseiter.

Keiner würde verstehen wollen, was sie verband. Sie konnte die mitleidigen Blicke ihrer Freundin schon sehen. Aber sie hatte sich wirklich in seine ernste und manchmal unbeholfene Art verliebt. Auf der anderen Seite war er so tatkräftig. Ließ sich nicht von seinem Schicksal unterkriegen, auch wenn sie spürte, dass er damit mehr haderte, als er zugeben wollte.

Sie schüttelte den Kopf. Sie wollte mit ihm zusammen wachsen. Sie würde ihn nicht mehr aufgeben. Er war offen ihr gegenüber und sagte ihr nicht andauernd, wie sie sich zu definieren und zu verhalten hatte. Sie wollte mehr für sich, als die Welt der Gehörlosen. Es war nicht schlecht, dieses Umfeld. Sie würde es nicht missen wollen. In ihm musste sie sich nicht beweisen, von Geburt an hatte sie einen festen Platz darin, doch sie wollte sich nicht damit zufriedengeben. Sie wollte nicht lediglich Teil einer, wenn auch wundervollen, Minderheit sein. Sie wollte ihr Leben leben dürfen, ohne irgendwo - sei es in der Welt der Hörenden oder ihrer eigenen - gegen Mauern zu rennen. Sie wollte Akzeptanz von beiden Seiten. Sie seufzte und stieg aus.

Zu Hause angekommen, machte sie sich bemerkbar, indem sie das Licht ein paar Mal an- und ausschaltete. Ihr Vater hob lächelnd den Kopf, als sie die Stube betrat. Wie immer lag die Tageszeitung aufgeschlagen vor ihm, daneben eine große Tasse Kaffee und das obligatorische Stück Kuchen, das er gerne beim Zeitunglesen genoss.

„Wo warst du? Hattest du einen schönen Tag?", erkundigte er sich.

„Ja, sehr schön. Ich war im Zoo", antwortete sie.

„Alleine?", fragte er.

„Nein. Nicht alleine", erwiderte sie.

„Melina?", vermutete ihr Vater und zog erstaunt die Augenbrauen hoch, als sie verneinte.

Ihre Mutter trat zu ihnen und fragte: „Mit wem dann?"

„Er heißt Daniel", gab sie zu.

„Daniel? Kennen wir ihn?", wollte ihr Vater wissen.

„Nein, wir kennen uns erst seit ein paar Wochen. Wir haben uns ab und zu getroffen", erklärte sie und zuckte mit den Schultern.

„Ist er dein Freund?", schlussfolgerte ihre Mutter.

„Möglich", erwiderte sie, konnte aber nicht verhindern, dass ein verträumter Ausdruck in ihre Augen trat.

Ihre Eltern wechselten einen bedeutungsvollen Blick und während ihr Vater misstrauisch aus der Wäsche sah, lächelte ihre Mutter.

‚Sag's ihnen. Sag ihnen, dass er hörend ist!', sagte eine Stimme in ihr.

„Lernen wir ihn kennen?", unterbrach ihr Vater Emmas Gedanken.

„Vielleicht irgendwann. Mal sehen, wie es sich entwickelt", wehrte sie automatisch ab und sagte, dass sie in ihr Zimmer gehe.

Sie ließ sich aufs Bett fallen und starrte an die Decke. Ihre Gefühlswelt und ihr Kopf spielten gerade verrückt. Sie musste dringend mit jemandem sprechen. Sie holte ihr Handy und schrieb ihrer Freundin Melina, ob sie Zeit für sie hätte. Sie antwortete ihr prompt, dass sie vorbeikommen könne, wenn sie wolle. Auch ihre engste Vertraute roch schon Lunte. Sie hatte sie mehrmals gefragt, ob Emma verliebt sei, doch bisher hatte sie immer geschwiegen. Sie seufzte. Melina würde wenigstens versuchen, sie zu verstehen. Sie ging zurück in die Küche und fragte ihre Eltern, ob sie ein wenig zu Melina dürfe, und ihre Mutter stimmte zu. Also machte sie sich auf den Weg. Sie lebte ganz in der Nähe, so dass sie schon bald vor deren Haustür stand und wartete, dass Melina ihr öffnete. Ihre Freundin strahlte sie an und nach der obligatorischen Umarmung zog diese sie ins Haus.

Hear the worldWhere stories live. Discover now